Das Erbe des Greifen
Freunde hintereinander gehen mussten. Einmal konnte sich Garret nur durch einen beherzten Sprung zur Seite davor bewahren, ein unfreiwilliges Bad im Hafenbecken zu nehmen. Was sie hier zu sehen bekamen, ließ sie staunen. Das erste Schiff, das Tarlon und Garret in ihrem Leben erblickt hatten, war eines aus Beliors Flotte gewesen, das kurz vor dem Dammbruch Feuer gefangen hatte. Viel Muße, es zu betrachten, hatten sie damals nicht gehabt, aber nun schlug der Anblick der Schiffe Garret in seinen Bann. Der Gedanke, dass so etwas Großes auf dem Wasser schwimmen konnte, ohne unterzugehen, überwältigte ihn förmlich. Tarlon hingegen war sichtlich fasziniert von den Ladekränen mit ihren großen Lauftrommeln und mechanischen Getrieben.
Aber nicht fasziniert genug, um sich von einem Dieb bestehlen zu lassen. »Nicht doch«, knurrte er, als er mit eisernem Griff den Arm eines schmächtigen Mannes umbog, so dass dieser gezwungen war, Tarions Beutel wieder loszulassen, den er ihm zuvor aus dem Wams gefischt hatte. »Den brauche ich noch.« Er fing den Beutel auf, als dieser den kraftlosen Fingern des Mannes entglitt, packte den Übeltäter am Rockaufschlag und hob ihn hoch.
»Ich habe keine Zeit für solche Spielchen«, fuhr er den verängstigen Mann an, dessen Füße ein gutes Stück über dem Boden baumelten. »Also schlage ich vor, dass ich meinen Beutel behalte und du schleunigst von hier verschwindest. Einverstanden?«
Er schüttelte ihn ein wenig, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Hör auf, Tarlon«, griff Vanessa ein. »Der Arme läuft ja schon blau an!«
»Ja, das tut er«, stellte ihr Bruder ungerührt fest. »Aber ich glaube, er findet meinen Vorschlag ganz gut, nicht wahr?« Er ließ den Mann sinken und löste seinen Griff etwas.
»Ja, Ser!«, keuchte der Dieb. »Absolut. Ihr werdet dem alten Berosch doch nichts antun, junger Ser? Es war ein Versehen, wirklich … ich weiß gar nicht …«
»Verschwinde einfach«, knurrte Tarlon und schubste den Mann von sich. Der ließ sich das nicht zweimal sagen und rannte davon. Einen Augenblick später war er im Gewühl der Leute untergetaucht.
»Ich hätte ihn ins Wasser geworden«, rief Garret lachend, als Tarlon seinen Beutel wieder unter seinem Wams verstaute.
»Und was hättest du getan, wenn er nicht hätte schwimmen können? Nur weil er versucht hat, meinen Beutel zu stehlen, muss ich ihn doch nicht gleich umbringen.«
»Du bist halt gutmütig«, grinste Garret. »Dennoch wette ich, es wäre nicht geschehen, hättest du deine Axt dabeigehabt. Mit dem Ungetüm auf dem Rücken traut sich niemand an dich heran.«
»Da magst du Recht haben«, gab Tarlon schmunzelnd zu. »Allerdings bleibe ich dann auch jedem, der mich sieht, in Erinnerung. Und das wollen wir doch auch nicht.«
»Aber in gewisser Weise hat Garret Recht«, wandte die Bardin leise ein. »Der Mann wird es Euch nicht danken, dass Ihr ihn verschont habt.«
»Solange sich unsere Wege nicht ein zweites Mal kreuzen, soll es mir egal sein«, meinte Tarlon.
»Ist es das dort?«, fragte Vanessa etwas später an Garret gewandt und wies auf ein Schiff, das gerade in den Hafen einlief. Sie hatten unweit der Kommandantur einen Platz gefunden, von dem aus sich das Hafenbecken gut einsehen ließ. Garret hatte es sich auf einem Baumwollballen bequem gemacht und wirkte, als ob er jeden Moment einschlafen würde. Nun hob er träge den Kopf und musterte das Schiff genauer.
»Nein«, beschied er dann. »Das dort heißt ›Heringsbraut‹ « Er lachte. »Wie kann man einem Schiff nur einen solchen Namen geben!«
»Jemandem wird er gefallen haben«, antwortete Vanessa mit einem Schmunzeln.
»Also bleibt uns noch ein wenig Zeit«, stellte die Bardin fest.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Vanessa und deutete auf das Gebäude der Hafenkommandantur, an dem nun Bewegung zu erkennen war. »Frese ist gerade herausgekommen.«
»Also gut. Dann lasst uns hingehen«, meinte Tarlon.
Garret setzte sich auf, streckte sich und gähnte ausgiebig. »Das Leben ist ungerecht«, teilte er den anderen dann mit. »Ständig wird man gehetzt!«
Vanessa und Tarlon schmunzelten, die Bardin schüttelte nur den Kopf, während sie ihren Packen griff und sich zum Gehen wandte. Dennoch war sich Tarlon sicher, den Hauch eines Lächelns auf ihren Lippen gesehen zu haben.
Frese begrüßte die Freunde nur kurz und wies dann mit einer Geste auf ein flaches Boot, das an einer Treppe vertäut lag, welche zum Wasser
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