Das Erbe des Greifen
sah wieder nach unten.
Keinen Moment zu spät, denn der Priester ging gerade gemessenen Schrittes auf den Turm zu, eine zögerlich wirkende Wache im Schlepptau.
Jetzt oder nie, dachte Argor, streckte die Hand aus dem kaputten Fenster, ließ den Stein los und trat zugleich hastig einen Schritt zurück. Der Stein fiel zuerst nicht ganz so, wie er sollte, aber dann konnte Argor ihn doch überreden, das Ziel zu treffen. Der dumpfe Aufprall war bis oben zu hören, ebenso das erschreckte Fluchen des Soldaten.
Argor nahm seinen ganzen Mut zusammen und sah noch einmal hinab. Der Priester lag der Länge nach im Staub, und der Soldat wich bereits angstvoll vor dem Turm zurück, um sich dann nach wenigen Schritten umzudrehen und panisch davonzurennen. Na also, dachte Argor und klopfte sich zufrieden die Hände ab. Wozu Magie, wenn es auch einfacher ging?
»Das war ein guter Wurf«, nickte Knorre anerkennend, als Argor wieder nach unten kam.
»Danke, aber es war nicht weiter schwierig«, antwortete Argor bescheiden.
Knorre warf ihm einen skeptischen Blick zu und nickte dann, bevor er sein Auge wieder gegen den Türspalt drückte. »Der Turm ist gut zwölf Mannslängen hoch, ich kenne nur wenige, die aus dieser Entfernung getroffen hätten! Doch der Wurf hat ohne Zweifel seinen Zweck erfüllt. Die Wachen sind geflohen, sie werden jetzt erst recht glauben, dass der Turm verwunschen ist! Ich gebe zu, die Idee mit dem Stein war besser. Bei alten Gemäuern wie diesen kann so etwas geschehen.« Er zog langsam die alte Tür auf. »Seht Ihr die Bresche dort drüben, wo die Mauer eingestürzt ist?«
»Ja.«
»Dort geht es hindurch. Danach scharf rechts in die Schäfergasse, und von dort aus ist es nicht mehr weit zu meiner Freundin.«
»In Ordnung«, sagte Argor und stieß die Tür auf. Knorre stützte sich auf seine Schulter, und so humpelten sie, so schnell es ging, gemeinsam davon. Doch sie waren noch keine vier Schritte weit gekommen, als der am Boden liegende Priester sein blutüberströmtes Haupt hob. Der Stein hatte ihn hart getroffen, sein Schädel unter der Kapuze war eingedrückt, sein eines Auge geplatzt und aus der Höhle herausgetreten. Und doch lebte er noch!
Wenn auch sein verbliebenes Auge in einem rötlichen unheilvollen Licht glühte, als ob er sich bereits bei seinem dunklen Gott befinden würde.
»Ihr werdet …«, begann der Priester mit einer Stimme, die bereits aus dem Jenseits zu kommen schien.
»Jetzt nicht!«, knurrte Knorre, hüpfte auf seinem guten Bein an den Priester heran und stieß seinen Stab mit Macht auf ihn herab. Ein gleißender Blitz trat aus ihm heraus, gefolgt von einen dumpfen Donnerschlag, und der Leichnam sackte rauchend in sich zusammen. »Ich habe jetzt wirklich keine Lust, mich mit einem Gott zu unterhalten«, erklärte Knorre dem Zwerg, der fassungslos neben ihm stand und mit bleichem Gesicht auf den verkohlten Leichnam starrte. »Als ich es das letzte Mal getan habe, verlor ich fast meinen Verstand dabei.«
»Das«, räusperte sich Argor, »kann ich nur zu gut verstehen.«
Wenig später hatten sie die Bresche in der Mauer erreicht und eilten, ohne auch nur einmal innezuhalten, weiter. Plötzlich blieb Knorre stehen und sah nach oben. Wortlos hob er die Hand, und jetzt bemerkte auch Argor den schwarzen Fleck am Himmel, der rasch näher kam.
»Bei allen Göttern! Der Dreckskerl lebt noch!«, stellte Argor verbittert fest. »Hätte es ihn und seinen Drachen nicht einfach wegschwemmen können?«
»Das wäre ohne Zweifel wünschenswert gewesen«, stimmte Knorre ihm zu, »ist aber, wie es aussieht, nicht geschehen. Ich frage mich nur, was er in Berendall will!«
»Er war wohl wirklich nicht sehr beliebt, dieser Graf Lindor«, bemerkte Lamar. »Es war ihm wohl auch kein Anliegen, sich Freunde zu machen«, knurrte der alte Mann. »Auf jeden Fall erhielt er auch in Berendall kein besonderes Willkommen, als er sein neues Kommando antrat.«
Lindors Regiment
Vor ein paar Jahren hatte er Berendall schon einmal überflogen, erinnerte sich Graf Lindor, als er die Küstenstadt tief unter sich betrachtete. Schon damals war ihm aufgefallen, wie gut sie befestigt war. Jetzt nahm er sich allerdings die Muße, die Stadt noch einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Ihre Wälle waren höher und stärker, als er es bei einer Stadt dieser Größenordnung erwartet hatte, ihre Wallanlagen in einem sternförmigen Muster angelegt. Sie besaß keine richtigen, in die Höhe gezogenen Mauern,
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