Das Erbe des Greifen
Leklen begrüßt, der mit dem Eintreffen des Grafen sein Kommando verloren hatte, ein Umstand, der ihm ganz und gar nicht behagte. Und so führte er den Grafen mit sichtlich erzwungener Höflichkeit in das Gebäude und öffnete ihm die Tür zu dem Raum, der von nun an des Grafen Amtszimmer sein würde.
»Danke«, sagte Lindor knapp, blickte sich kurz in dem Raum um und trat dann ans Fenster hinter dem Schreibtisch, um von hier aus einen weiteren Blick auf das Regimentslager zu werfen.
Man sieht dem Lager deutlich an, dass sich das Regiment schon seit fast zwei Jahren hier befindet, dachte der Graf und musterte wortlos einen Versorgungswagen, der bis zu den Achsen im weichen Boden versunken war. Dem Wagen links daneben erging es nicht viel besser, nur dass ihm zudem noch ein Strauch durch die Speichen des hinteren linken Rades gewachsen war. Das Lager selbst war um einen kleinen Hügel herum angelegt worden, dem sogar eine Quelle entsprang. Der Standort war also gut gewählt. Im Laufe der letzten zwei Jahre war er sogar befestigt worden, eine unregelmäßige Palisade zog sich um das gesamte Lager herum. An seinen zwei Toren erhoben sich primitive Wachtürme, zudem war an der Straße, die zum Lager führte, ein kleines Dorf entstanden, in dem es, wenig überraschend, auch zwei Tavernen und ein Hurenhaus gab. Mehrere niedrige Hallen, roh aus Baumstämmen gezimmert, dienten als Unterkünfte für die Mannschaften. Das Zeughaus daneben war dagegen aus Stein gebaut, und etwas weiter rechts stand ein Gerüst für ein weiteres großes Gebäude, an dem, wie es aussah, jedoch schon lange nicht mehr gearbeitet worden war.
»Was für ein Gebäude soll das werden?«, erkundigte sich Lindor kühl, ohne sich dabei vom Fenster abzuwenden.
Oberst Leklen stand in Hab-Acht-Stellung hinter Lindor, vor dem Schreibtisch, der bis vor Kurzem noch der seine gewesen war.
In seiner Paradeuniform fein herausgeputzt, gehörte Oberst Leklen genau zu jener Sorte von Offizieren, die Lindor zutiefst verachtete. Ein politischer Opportunist, der Belior bei jeder Gelegenheit die Stiefel leckte. Nicht, dass das in gewisser Weise nicht auch für ihn selbst galt, dachte Lindor verbittert, aber er tat es wenigstens nicht voller Enthusiasmus!
Im ganzen Lager gab es nur ein einziges ordentliches Gebäude, die Kommandantur, und die hatte sich der Oberst äußerst bequem eingerichtet. Das Fenster, durch das hindurch Lindor auf das Lager blickte, war mit gutem Glas versehen, dicke Teppiche bedeckten den Boden, und die Möbel hätten jedem Stadtpalast zur Zierde gereicht. Das Bett im Nebenraum hingegen wäre der Stolz jedes Hurenhauses gewesen.
»Das Waschhaus, Ser«, antwortete der Obrist steif. »Mein Vorgänger gab die Order zu seiner Errichtung, ich sah jedoch keinen Sinn mehr darin, es weiter auszubauen, da die meisten Soldaten die Waschhäuser in der Stadt …« Er verstummte, denn Lindor hatte die Hand gehoben. Langsam drehte er sich nun um und musterte den schlanken Mann vor sich. Blonde Haare, blaue Augen, ein scharf geschnittenes Gesicht mit einer geraden Nase und schmalen Lippen, entsprach er durchaus dem Bild, das man sich gemeinhin von einem Soldaten machte, doch die Rüstung des Obristen war reichlich mit goldenen Verzierungen versehen und so stark poliert, dass man sich in ihr spiegeln konnte. Lindor konnte nicht einen einzigen Kratzer auf dem Brustpanzer des Mannes ausmachen, und anders als Lindors eigener Umhang war der des Obristen weder verblichen noch verdreckt, sondern leuchtete so strahlend rot, als würde er jeden zweiten Tag neu eingefärbt werden.
Achtete der Oberst noch peinlich auf sein Erscheinungsbild, war das bei den Soldaten, die Lindor bisher gesehen hatte, keineswegs mehr der Fall. Kaum einer der Leute trug noch seine volle Ausrüstung, und bei dem kurzen Gang durchs Lager hoch zur Kommandantur waren dem Grafen mindestens zwei Dutzend Soldaten begegnet, deren Rüstungen und Waffen Rostflecken aufgewiesen hatten.
»Leklen«, begann der Graf nun mit gefährlich leiser Stimme. »Morgen früh, bei Sonnenaufgang, werdet Ihr einen Generalappell halten. Jeder Mann, dessen Ausrüstung Mängel aufweist, wird zu drei Tagen Strafdienst abgestellt. Jeder Soldat, der morgen früh nicht zum Appell erscheint, wird mit einer Woche Strafdienst belegt und zehnmal mit der Rute gestrichen. Jeder Soldat, der es versäumt, sich innerhalb der nächsten vier Tage zum Dienst zu melden, wird mit zwanzig Rutenhieben bestraft. Und wer es versäumt,
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