Das Erbe des Greifen
dümmste Wache gekommen, schließlich haben sie es oft genug mit Dieben zu tun, und die mögen ja bekanntlich Dächer. Das wissen auch die Stadtwachen. Deshalb habe ich zuvor auch einen kleinen Zauber gelegt, damit keiner von ihnen auf die Idee kam, auf dem Dach nachzusehen.«
»Ihr habt ihr Denken beeinflusst?«, fragte Argor empört. »Das ist eine hinterhältige Magie, wie könnt Ihr Euch nur solcher Methoden bedienen?«
»Wäre es Euch lieber gewesen, sie hätten uns gefunden?« erwiderte Knorre gelassen.
»Das nun nicht gerade«, gab Argor leicht säuerlich zu. »Aber es gehört sich trotzdem nicht.«
»Mag sein, aber ob es sich nun gehört oder nicht, den Kerl da vorne bringe ich sowieso nicht dazu, wegzusehen.« Knorre lehnte sich müde gegen die Wand neben dem Eingang. »Wir sind hier drinnen wie die Ratten gefangen, nur dass Ratten weglaufen können …«
»Ich verstehe nur nicht, weshalb sie überhaupt hinter uns her sind«, meinte Argor, »und wie sie auf die Idee kommen, ausgerechnet den Turm zu durchsuchen?«
Knorre seufzte.
»Dass da draußen auf dem Boden geborstene Dachziegel herumliegen, hat einen Grund! Wahrscheinlich hat die Druckwelle sie bei unserer Ankunft vom Dach gerissen! Schon der Lichtblitz dürfte schwer zu übersehen gewesen sein, doch den Donnerschlag danach hat gewiss jeder in ganz Berendall gehört.«
»Lichtblitz? Donnerschlag?«, meinte Argor verwirrt und überrascht. »Warum habe ich denn davon gar nichts mitbekommen?«
»Mit Verlaub, Freund Argor, zu diesem Zeitpunkt wart Ihr schon fast ersoffen. Ich wusste bis dahin gar nicht, dass soviel Wasser in einen Menschen hineinpasst.«
»Ich bin ein Zwerg«, widersprach Argor pikiert.
»Ach, ihr Zwerge könnt mehr Wasser atmen als wir Menschen?«, fragte Knorre etwas spitz. »Wie auch immer, wir müssen hier weg, und der Kerl da vorn steht uns im Weg.« Abwägend wog er seinen Stab in der Hand. »Ich könnte ihm einen Blitz schicken … und wenn es mir gelingt, es so aussehen zu lassen, als ob er vom Turm ausgegangen wäre, laufen die Wachen vielleicht weg.«
»Es mag eine gute Tat sein, ihm die Last des Lebens fürsorglich von den Schultern zu nehmen«, meinte Argor ironisch, »aber es hat mir ein Wenn und ein Vielleicht zuviel.
Pulver sagt, es gibt für jedes Problem eine perfekte Lösung, man muss sie nur finden.«
»Das sagte mein Vater auch immer«, lachte Knorre. »Er vergaß nur zu erwähnen, wie man die Lösung findet!«
Argor blickte erneut durch den Spalt nach draußen und musterte die zerborstenen Dachziegel und Teile des Mauerwerks, das sich zum Teil wohl schon vor Jahren aus dem Turm gelöst haben musste.
»Entschuldigt mich kurz«, meinte Argor höflich und eilte die steile Treppe hoch, so schnell ihn seine kurzen Beine nur trugen.
»Was habt Ihr vor?«, rief Knorre ihm nach.
»Gleich«, antwortete der junge Zwerg und stürmte weiter voran.
Es war so, wie er es in Erinnerung gehabt hatte. Oben im Turmzimmer war ein Teil des Mauerwerks unter einem der Fenster bereits brüchig, hier und da fehlte sogar schon ein kleinerer Stein.
Auf einen mehr oder weniger kommt es wohl nicht an, dachte Argor grimmig und dankte den Göttern, dass die Wand wenigstens aus Felsgestein und nicht aus Ziegeln errichtet worden war.
Wie die Menschen nur mit einem Material bauen konnten, das keine Seele besaß, hatte er noch nie verstanden. Bei einem anständig gewachsenen Stein wusste man dagegen immer, woran man war, konnte ihn fühlen bis in die Tiefe seines Wesens!
Hier war genau der Stein, nach dem er gesucht hatte, etwas größer als seine Faust, schwer genug und handlich zugleich. Roter Sandstein, zwar etwas von der Witterung angegriffen, aber im Kern noch immer fest.
Der Stein fiel ihm fast in die Hand, als er ihn aus der Mauer herauszog, beinahe als wäre er selbst begierig darauf, die lichte Höhe zu verlassen, in der er so lange hatte verweilen müssen. Argor beugte sich etwas vor, schluckte kurz, als er in die Tiefe sah, und zog dann hastig seinen Kopf wieder zurück. Du fällst nicht, du Feigling, du kannst nicht fallen, du hältst nur deine Nase aus dem Fenster! Aber es half nichts, allein schon der bloße Gedanken an die Tiefe ließ ihn schweißnasse Hände bekommen!
Komm, tu etwas, du willst doch noch erleben, dass du einen Bart bekommst, oder etwa nicht? Tief durchatmen, einen Augenblick nur, mehr braucht es nicht! Er stützte sich an einem Balken ab, der ihm noch stabil genug erschien, holte tief Luft … und
Weitere Kostenlose Bücher