Das Erbe des Greifen
Leben zuzuführen … vorzugsweise ein menschliches. Viel Geduld besaß der Priester jedenfalls nicht, dachte Lindor, denn schon im nächsten Moment klopfte es an der Tür. Auf Lindors Ruf hin öffnete der Adjutant die Tür und trat dann einen Schritt zur Seite, um dem dunklen Priester Einlass zu gewähren. Der Graf hingegen blickte noch immer aus dem Fenster.
»Ich bin es nicht gewohnt, dass man mich warten lässt«, begann der dunkle Priester ohne jede Höflichkeitsfloskel. »Noch dass man mir den Rücken kehrt.«
»Wir haben alle unsere Schwächen«, antwortete Lindor kühl, wandte sich dem Priester aber nunmehr zu. Ohne die dunkle, mit goldenem Brokat verzierte Robe wäre der Mann mit dem mausgrauen Haar, dem runden Gesicht und der glatten Haut eines Jünglings völlig unscheinbar gewesen. Wären da nicht seine Augen, dachte Lindor, könnte man sogar meinen, der Mann wäre harmlos. Der Graf kannte solche Menschen, wusste, dass es sie gab. Es waren Menschen ohne Herz und Seele. Menschen mit den kalten, unbewegten Augen eines Raubtiers. Oder eines Kronoks.
Schon lange war es der Graf gewohnt, sich nicht anmerken zu lassen, was er dachte. Aber bei diesem Mann mochte es ihm nichts nutzen, denn den dunklen Priestern wurden viele Gaben nach gesagt. Dass sich der Glaube Darkoths überhaupt hatte ausbreiten können, war etwas, das Lindor nicht begreifen konnte. Predigte er doch nichts Anderes als die Vernichtung und endgültig Zerstörung des Lebens und appellierte zudem an die dunkelsten Seiten der Menschen, indem er sie dazu aufforderte, ihren niedrigsten Instinkten zu folgen. Wozu konnte der Mensch denken, wenn er sich zuletzt doch dazu verführen ließ, sich wie ein Tier, nein, schlimmer als jedes Tier zu verhalten? Aber ob es dem Grafen nun passte oder nicht, es gab nun einmal mehr als genug Leute, die dem dunklen Lockruf Darkoths Folge leisteten.
Über das Leben eines anderen Macht zu haben war für manche Menschen nun einmal ein erhebendes Gefühl, und Lindor hatte selbst schon miterlebt, wie ein Priester allein bei dem Gedanken an eine Opferung in Ekstase geraten war.
Wie auch immer, dachte Lindor bitter, verglichen mit dem Mann, der ihn nun mit kalten Augen musterte, waren die Kronoks dem Grafen sogar noch lieber. Sie gaben wenigstens nicht vor, etwas anderes zu sein als das, was sie waren, intelligente Raubtiere, mit der Lust auf Jagd und dem Hunger nach Beute. Aber dieser hier … Der Priester sah ihn mit ausdruckslosen Augen an und zog sich dann einen der gepolsterten Stühle heran, die vor dem Schreibtisch standen. Er ließ sich nieder, ordnete seine Robe und sah zu Lindor auf. Wobei er die Kunst, sitzend auf einen Stehenden herabzusehen, gut beherrschte.
»Ihr erhaltet hiermit Gelegenheit, Euch im Namen Darkoths verdient zu machen«, eröffnete der Priester das Gefecht. »Und ich erwarte von Euch volle Hingabe im Dienst an meinem Gott.«
»Ihr sollt den Blutzoll für Euren Gott erhalten«, antwortete Lindor kalt. »Wendet Euch an den Obristen Leklen, er wird Euch im Namen Beliors einen Unglücklichen aushändigen. Doch nur einen, jede Woche, Priester, einen einzigen. Keinen einzigen mehr.«
»Es gibt mehr als einen Blasphemiker unter Euren Leuten, Graf«, gab der Priester eisig zurück.
»Aber nur einen werdet Ihr pro Woche opfern«, beharrte der Graf. »Die Zahl ist nicht verhandelbar.«
»Mein Gott ist es nicht gewöhnt, dass man Ihm Vorschriften macht. Habt Acht, Graf, was Ihr sagt, kommt einer Gotteslästerung schon sehr nahe.«
»Sagte ich nicht schon, dass ein jeder so seine Schwächen hat«, erwiderte der Graf mit einem feinen Lächeln. »Die meine ist, dass ich nicht drohe.«
Der Priester blinzelte.
»Ich hörte, Ihr wäret königstreu?«
»Da habt Ihr recht gehört, Priester. Und nun überlegt Euch gut, was das bedeuten mag, zumal mir scheint, dass Ihr Eure Schlüsse sehr schnell zu ziehen pflegt. Aber ich komme Euch zu Hilfe, indem ich Euch schon einmal verrate, dass ich auf jeden Fall kein Freund Eures Gottes und erst recht kein Freund von Euch bin.«
Ein schmales kaltes Lächeln spielte um die Lippen des Priesters. »Offene Worte, Graf. Doch mich schreckt Ihr nicht. Ihr seid nicht mehr als ein bellender Hund, Graf Lindor. Genauer gesagt, seid Ihr der Kettenhund des Kanzlers. Und damit liegt ein Ende der Kette um Euren Hals, das andere fest in der Hand des Kanzlers.« Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. »Glaubt Ihr immer noch, ich ziehe die falschen Schlüsse?«
»Nein, ich
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