Das Erbe des Greifen
kann. Es gibt überall gute und schlechte Menschen, wie ich mittlerweile weiß. Die Schlechten sind scheinbar in der Überzahl, aber das liegt nur daran, dass man die Guten nicht sofort erkennt.«
»Du überraschst mich immer wieder, Tarlon«, gab Garret zu. »Seit wann machst du dir solche Gedanken?«
»Schon immer«, antwortete sein Freund, richtete sich auf und gähnte und streckte sich. »Du hast mich gebeten, hier zu sitzen und den Gedanken der Leute zu lauschen, was ich auch getan habe … wodurch vieles klarer und manches noch verworrener geworden ist. Allerdings kann ich mit Bestimmtheit sagen, dass die Menschen hier alle gleich sind. Ob sie Belior nun dienen oder nicht, sie haben alle die gleichen Sorgen, Ängste und Begierden. Es gibt nur wenig schlechte Menschen, Garret, allerdings viel zu viele, die nichts mit den Sorgen anderer Leute zu tun haben wollen, weil sie von ihren eigenen erdrückt werden. Der Zeugmeister … ich mag ihn. Jemand wie er wäre in Lytara jederzeit willkommen. Aber so, wie die Dinge stehen, ist es durchaus möglich, dass er durch unsere Hände den Tod finden wird.«
»Und was ist mit diesen beiden Halunken?«, fragte Garret und deutete verstohlen zu den beiden Soldaten hinüber, die sich in einer Ecke bei Bier und Korn prächtig zu amüsieren schienen.
Tarions Gesichtsausdruck veränderte sich schlagartig. »Diese beiden dort erhitzen sich gerade an der Vorstellung, was sie der Sera und Vanessa später antun wollen. Sie erinnern sich mit Lust an ähnliche, bereits zurückliegende Gelegenheiten.« Tarions Augen wurden schmal, als er zu den Soldaten hinübersah. »Sie haben bereits sechs Frauen und Mädchen getötet und Dutzende andere geschändet! Es ist ein Spiel für sie, ein Zeitvertreib. Erst vorgestern Nacht haben sie eine junge Frau hier im Dorf erschlagen, nachdem sie ihr Gewalt angetan haben … wenn ich wüsste, wer sie war, könnte man die Burschen vielleicht dem Obmann übergeben, auf dass er sie hängen lässt. Sie haben den Strang mehr als einmal verdient!«
»Das wäre eine elegante Lösung«, bestätigte Garret nachdenklich. »Ist sie denn auch durchführbar?«
Tarlon schüttelte bedauernd den Kopf.
»Nein. Uns fehlt schlichtweg die Zeit dazu. Die beiden haben jetzt genug von Wein und Korn und wollen nach dieser Runde zur Tat schreiten. Der Kleinere von ihnen hat sogar schon herausgefunden, welches Zimmer die Frauen belegt haben. Nur der Umstand, dass wir hier sitzen, hat sie bisher daran gehindert, nach oben zu gehen! Aber jetzt haben sie die Geduld verloren.«
»Was sollen wir also tun?«, erkundigte sich Garret. »Ich will nicht, dass die Frauen irgendetwas mitbekommen. Warten wir, bis sie gehen, und schnappen sie uns dann im Gang? Und danach? Wohin bringen wir ihre Leichen? Und wie stellen wir es an, dass wir dabei nicht gesehen werden?«
Tarlon sah ihn an und lachte bitter.
»Ich lerne gerade, dass ich mich nicht zum Mörder eigne. Jedenfalls habe ich keine Antworten auf deine Fragen, Garret. Ich fürchte, wir werden zulassen müssen, dass sie ins Zimmer der Frauen eindringen, denn nur so haben wir eine Chance, uns den Wachen zu erklären. Noch besser wäre es allerdings, wenn möglichst viele Gäste mitbekommen, was hier vor sich geht, dann glaubt man uns eher.«
»Das will ich aber nicht«, widersprach ihm Garret. »Das will ich Vanessa nicht zumuten. Auch der Bardin nicht.«
»Darin sind wir uns wohl einig!«, antwortete Tarlon frustriert. »Nur wie … Göttin, die beiden stehen auf!«
»Dann lass sie vorgehen … und wenn sie versuchen, die Tür zum Zimmer der Frauen aufzubrechen, erschlage ich sie.«
»Nur, wenn du schneller bist als ich«, schwor Tarlon grimmig und stand auf.
Garret folgte ihm eilig, und so erreichten sie die Treppe nach oben, kaum dass die beiden Halunken sie halb erklommen hatten. Doch plötzlich runzelte Tarlon die Stirn.
»Warte, Garret«, hielt er inne und legte eine Hand auf den Arm seines Freundes.
»Was ist?«, flüsterte Garret überrascht.
»Ich weiß nicht …«, begann Tarlon, konnte den Satz aber nicht mehr beenden, denn in diesem Moment sahen sie, wie der hintere der beiden Soldaten seinem Kumpan einen Dolch in den Rücken stieß. Der Getroffene schrie überrascht auf, drehte sich um und zog seinen eigenen Dolch. Doch schon rammte ihm der andere seine Klinge noch mal von vorn in den Bauch. Vor Tarions und Garrets ungläubigen Augen und denen der anderen Gäste rangen die Soldaten nun ineinander verkeilt und
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