Das Erbe des Greifen
Ich habe sie nirgendwo gesehen! Oder meinst du, dass sie das bewirken konnte, ohne dabei ihren Raum verlassen zu müssen?«
»Vielleicht hat sie ihn ja auch verlassen, ist aber von niemandem gesehen worden«, gab Tarlon zu bedenken.
Garret stierte nachdenklich vor sich hin und sagte nichts mehr. Tarlon griff nach Garrets Becher, sah hinein und runzelte die Stirn, als er bis auf den Boden blicken konnte. »Ich glaube, einen können wir uns noch gönnen«, meinte er schließlich. »Danach sollten wir schlafen gehen.«
Garret nickte nur, fing den Blick eines der Schankmädchen ein und hob den leeren Becher als Zeichen. Als sie später nach oben gingen, war nur noch ein feuchter Fleck auf den Steinplatten vor der Treppe zu sehen und ein paar Tropfen Blut auf dem hölzernen Geländer der Treppe.
»Das entspricht in der Tat nicht dem, was ich erwartet habe. Nun sagt mir«, bat Lamar drängend, »ist es tatsächlich die Sera Farindil gewesen?« Der Geschichtenerzähler, der gerade genüsslich geschnittenen Käse mit Weintrauben aus einer flachen Schüssel pickte, hielt in seiner Bewegung inne, sah zu Ser Lamar hin und warf sich dann eine Traube in den Mund.
»Woher soll ich das denn wissen? Aufgeklärt wurde der Fall jedenfalls nie. Ich kann Euch nur sagen, dass Tarlon felsenfest davon überzeugt war, dass es die Sera Bardin gewesen sein muss. Wer auch sonst? Es war bekannt, dass die Sera Farindil über magische Fähigkeiten verfügte, nur über welche, wusste niemand so genau. Garrets Neugier war zwar durch nichts zu bremsen, aber selbst er wagte es nicht, die Bardin einfach danach zu fragen, ob sie alleine durch die Kraft ihrer Gedanken jemanden getötet hatte. Wie Tarlon später einmal sagte, waren es die beiden Soldaten auch nicht Wert, sich noch länger darüber Gedanken zu machen.«
Lamar nickte zustimmend. »Schade, finde ich es ebenfalls nicht um sie. So, wie Ihr sie beschrieben habt, waren sie nichts weiter als zwei üble Burschen, die den Strang verdient hatten. Ich frage mich nur, wie man so werden kann …«
Der alte Mann zuckte mit den Achseln und pickte sich sorgfältig die nächste Traube aus der Schale.
»Erlebt man einen Krieg, verhärtet man. Man stumpft ab. Dinge, die einen zuvor entsetzten, nimmt man später als gegeben hin. Der einzige Unterschied besteht darin, ob man noch etwas Gnade und Barmherzigkeit für andere Menschen im Herzen zurückbehält, gerade weil der Krieg so entsetzlich wenig davon zeigt, oder ob man dem Tier in sich nachgibt.« Er warf ein Stück Käse hoch und fing es überraschend geschickt mit dem Mund auf. »Was ich Euch jedoch mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ein jeder, der sich dem Krieg hingab und in seiner Verrohung keinen Einhalt fand, auf diese Weise dem dunklen Gott Vorschub leistete.« Er hielt die Schüssel Ser Lamar hin, doch dieser lehnte dankend ab. »Und so war es nach all den Jahren des Krieges, des Mordens, der Verzweiflung und der Not nicht weiter verwunderlich, dass Darkoth erstarkte. Für ihn war der Krieg, was für uns Brot und Wein waren: ein Fest der Sinne.«
»Hhm …«, brummte Lamar nachdenklich. »Was mich verwundert, ist nur, dass ich, bevor ich hierher kam, so wenig von diesem Gott Darkoth gehört habe. Ich wusste zwar, dass es ihn gab, aber das war auch schon alles.«
»Ich kannte so einige, die froh gewesen wären, dies zu hören«, meinte der alte Mann und klang zum ersten Mal etwas traurig. » Wüssten sie dann doch, dass ihre Taten und Opfer nicht vergeblich waren und der dunkle Gott an Einfluss verlor!« Doch dann lachte er kurz auf. »Aber es gab auch einige andere, die schlichtweg nichts anderes erwartet hatten.« Er beugte sich leicht vor. »Glaube und Liebe sind die stärksten Kräfte, die im Menschen wirken, Ser Lamar. Glaubt man an die Liebe … so wird einem selbst das Unmögliche gelingen. Nur manchmal … manchmal fällt es einem sogar schwer, an die Liebe zu glauben.«
»Da habt Ihr allerdings Recht«, bestätigte Lamar.
»Die Kunst ist, auch dann noch zu glauben, wenn es aussichtslos erscheint«, lächelte der alte Mann. »Es gab damals aber auch diejenigen, deren Glauben an sich selbst unerschütterlich war. Manchmal habe ich sie beneidet.«
»Ihr meint Garret?«, wollte Lamar wissen.
»Wie kommt Ihr darauf?«, fragte der alte Mann sichtlich überrascht. »Garret fiel es am schwersten, zu glauben. Und am wenigsten glaubte er an sich selbst! Nur hätte er dies niemals zugegeben! Nein, ich meinte damit andere. Meister
Weitere Kostenlose Bücher