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Das Erbe des Vaters

Das Erbe des Vaters

Titel: Das Erbe des Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Lennox
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Hesketh ins Bett gestiegen. Ausgerechnet mit dieser Person. Betty gehörte zu der Sorte Frauen, die Evelyn immer schon verachtet hatte. Gehörte sie auch zu der Sorte Frauen, die Männer wirklich begehrten? Taten Männer nur so, als bewunderten sie anständige Frauen, während sie in Wirklichkeit hinter liederlichen Flittchen wie Betty Hesketh herwaren?
    Osbornes Affäre mit dieser Person und ihr eigener Mangel an Engagement hatten das Bild der Vergangenheit verzerrt, getrübt, so daß es jetzt nicht zu erfassen war und kein leichtes Urteil erlaubte. Verabschiedete man sich wegen einer flüchtigen, lange vergangenen Untreue des Partners aus einer Ehe? Oder verjährten solche Vergehen, wie Osborne angedeutet hatte? Und wohin würde sie gehen, wenn sie ihn verließe? Es wäre vielleicht einfacher, ihm zu vergeben, oder wenigstens so zu tun. Osborne hatte ihr versichert, daß die Beziehung ihm nichts bedeutet hatte. Es war ja wohl so, daß Männer und Frauen ganz unterschiedlich über Sexualität dachten. Männer genossen den Sex mehr als Frauen, aber er bedeutete ihnen weniger. Außerdem hatte Osborne ja gesagt, es sei ewig her.
    Ewig … Evelyn, die an ihrem Schlafzimmerfenster stand und in den Garten hinaussah, griff zerstreut zu einem kleinen Meißener Porzellanfigürchen, während sie über die Diskrepanz nachdachte, die sie stutzig machte. Osbornes Geschichte paßte nicht mit der von Romy Cole zusammen. Romy Cole hatte gesagt, Osborne habe ihre Familie aus ihrem Zuhause vertrieben, um Middlemere seiner Geliebten geben zu können. Die Räumung hatte im Jahr 1942 stattgefunden. Osborne hatte aber unmißverständlich gesagt, daß er die Affäre mit Betty Hesketh im Jahr 1932 gehabt hatte, unmittelbar nachdem sie ihr erstes Kind verloren hatten. Zehn Jahre früher also. Wenn die Sache so flüchtig und bedeutungslos gewesen war, wie Osborne behauptet hatte, warum hatte er dann so viele Jahre später Betty Hesketh das Haus gegeben? Ich habe sie nicht einmal gemocht , hatte er gesagt. Weshalb dann diese Begünstigung? Weshalb ihr Middlemere vermieten? Warum eine so unverhältnismäßige Loyalität einer Frau gegenüber, mit der ihn angeblich nichts mehr verband?
    Evelyn dachte zurück an das Jahr 1932. Die Erinnerung daran war getrübt durch den Verlust ihres ersten Sohnes. Sie war nach der Fehlgeburt monatelang krank gewesen. Weit schlimmer als die körperlichen Schmerzen waren die seelischen gewesen. Der Kummer hatte sie beinahe vernichtet. So vieles hatte sie an ihren Verlust erinnert. Ein Säugling, der schlafend in einem Kinderwagen lag, die Schaukeln auf dem Spielplatz in Swanton le Marsh. Sie konnte nicht an dem kleinen Laden für Babybekleidung in Hungerford vorübergehen, ohne daß Trauer und Sehnsucht sie überfielen. Der Anblick einer Schwangeren oder einer jungen Mutter, die einen Kinderwagen schob, löste Neid und tiefe Niedergeschlagenheit aus.
    Betty Hesketh war in dem Jahr schwanger gewesen. Evelyn erinnerte sich plötzlich mit aller Lebhaftigkeit an einen Tag, als sie im Auto aus Hungerford nach Hause gefahren und im Dorf an Betty Hesketh vorübergekommen war. Betty war hochschwanger gewesen und hatte mehrere schwere Einkaufstüten geschleppt. Eigentlich hätte Evelyn anhalten und Betty anbieten müssen, sie mitzunehmen. Aber das hatte sie nicht getan. Sie war außer sich gewesen vor Wut und Haß darüber, daß Betty Hesketh ein Kind bekommen sollte, während ihr eigenes tot war.
    Es hatte sie immer gewundert, daß Osborne sich so teilnehmend um den kleinen Hesketh gekümmert hatte. Er war kein sentimentaler Mensch und neigte gar nicht zu solcher Verbindlichkeit. Kinder interessierten ihn wenig, und die Sprößlinge der sogenannten kleinen Leute fand er offenbar eher abstoßend, seinem Verhalten gegenüber den Verschickungskindern im Krieg nach zu urteilen. Doch nachdem Betty Hesketh Witwe geworden war, hatte Osborne stets dafür gesorgt, daß Caleb in den Schulferien in Swanton Lacy Arbeit hatte. Und während des Krieges und der darauffolgenden mageren Jahre hatte Caleb regelmäßig Obst und Gemüse aus den Nutzgärten von Swanton Lacy mit nach Hause genommen. Jahre später, nachdem Caleb seinen Militärdienst abgeleistet hatte, war Osborne ihm bei der Arbeitssuche behilflich gewesen.
    Unablässig drehte Evelyn die kleine Porzellanfigur in den Händen, während sie sich Caleb Heskeths Erscheinung ins Gedächtnis rief: groß, breitschultrig, mit dunklem Haar und diesen ungewöhnlichen schiefergrauen

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