Das Erbe des Vaters
gewechselt, als sie eine Panne gehabt hatte. Er wußte, daß sie schüchtern war, und ahnte, daß sie im Umgang mit Menschen, mit denen sie nicht vertraut war, große Schwierigkeiten hatte. Aber er hatte sie immer gemocht. Sie schien ihm eine nette Frau zu sein, liebenswürdig und sanft.
Jetzt allerdings sah sie gar nicht sanft aus. Ihr Blick erschreckte ihn beinahe. Sie starrte ihn an, als haßte sie ihn.
Er nahm einen neuen Anlauf. Lächelte sie an und sagte: »Mrs. Daubeny, kann ich Ihnen behilflich sein?«
Das Lächeln schien sie in Rage zu bringen. »Machen Sie sich nicht über mich lustig«, zischte sie.
»Ich mache mich nicht über Sie lustig, Mrs. Daubeny.« Er legte ihr die Hand auf den Arm, aber sie schüttelte sie ab.
Mit zusammengekniffenen Augen sah sie ihn an. »Sie und Ihre Mutter, dieses Flittchen.«
Er trat einen Schritt zurück. »Mrs. Daubeny –«
»Sie lachen sich doch seit Jahren hinter meinem Rücken über mich kaputt! Sie und diese Hure und Osborne. Über die doofe Evelyn, die nicht merkt, was los ist.«
Ihm wurde kalt. Sie weiß es, dachte er. Sie wußte über seine Mutter und Daubeny Bescheid. Wie war sie dahintergekommen?
Im gleichen mühsam beherrschten, rachsüchtigen Ton sagte sie: »Aber ich kann zwei und zwei zusammenzählen. Ich weiß Bescheid. Ich bin ja nicht dumm.«
»Nein«, sagte er, »natürlich nicht.«
Am liebsten wäre er ohne ein weiteres Wort in den Wagen gestiegen und davongefahren. Eine Ahnung von Gefahr machte ihn schaudern. Aber er konnte sie nicht einfach hier stehenlassen, mitten im Nichts, mit Laufmaschen in den Strümpfen und tropfnassen Sachen.
Er versuchte, ihr gut zuzureden. »Soll ich Sie nicht nach Swanton Lacy zurückbringen?«
»Swanton Lacy?« Sie lachte schrill. »Was sollte ich da wohl noch wollen?« Wieder griff sie ihn an. »Für Sie ist das etwas anderes. Sie meinen wahrscheinlich, Sie gehören da hin.« Plötzlich hob sie die Hand und versetzte ihm einen Stoß. Sie besaß überraschend viel Kraft, und er fiel mit dem Rücken gegen die offene Wagentür. »Na los doch«, zischte sie mit Haß in den Augen. »Fahren Sie schon nach Swanton Lacy, Caleb. Sagen Sie Ihrem Vater, daß ich alles weiß. Daß ich alle seine dreckigen kleinen Geheimnisse durchschaut habe.«
Am Ende tat er, wozu sie ihn aufgefordert hatte, und fuhr nach Swanton Lacy. Er tat es aus zwei Gründen: erstens, um Osborne Daubeny davon in Kenntnis zu setzen, daß seine Frau völlig von Sinnen in der Gegend umherirrte. Und zweitens …
An den zweiten Grund verbot er sich zu denken, während er durch das Dorf brauste und dann über die gewundenen kleinen Landstraßen nach Swanton Lacy. Er verdrängte ihn, indem er sich ganz darauf konzentrierte, vor den Kurven herunterzuschalten, vor Kreuzungen abzubremsen, um nicht die Herrschaft über den Wagen zu verlieren und im Graben zu landen.
Als er Swanton Lacy erreichte, hatte er sich ein wenig beruhigt. Evelyn Daubeny war übergeschnappt; was sie da gerade zu ihm gesagt hatte, war der beste Beweis dafür. Er konnte gar nicht Osborne Daubenys Sohn sein, es war zeitlich gar nicht möglich. Er war zu alt, um Daubenys Sohn zu sein, zehn Jahre zu alt.
Er stellte den Wagen auf dem gekiesten Vorplatz ab und wollte schon nach hinten zum Lieferanteneingang gehen, als er es sich anders überlegte. Als er vorn am Haupteingang läutete, hatte er das Gefühl, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten.
Daubeny selbst öffnete ihm. »Caleb!« sagte er überrascht. »Ich habe Sie so lange nicht gesehen … Kommen Sie wegen der Miete? Kommen Sie doch herein.«
Caleb folgte ihm ins Haus. Daubeny, fand er, sah wie seine Frau ein wenig mitgenommen aus: älter irgendwie, ein wenig gebeugt, die Haut schlaff, als paßte sie seinem Körper nicht mehr richtig.
»Ich glaube, Ihre Frau ist krank, Mr. Daubeny«, sagte er abrupt. »Ich bin ihr auf dem Weg nach Middlemere begegnet und hatte den Eindruck, daß sie dort völlig ziellos herumlief. Ich habe ihr angeboten, sie nach Hause zu fahren, aber das wollte sie nicht. Deshalb bin ich hergekommen. Ich hielt es für das beste, Ihnen Bescheid zu geben.«
Sie standen in der Vorhalle. Die Fenster mit den kleinen Scheiben warfen Gitterschatten über Daubenys Gesicht. Caleb wartete. Daubeny schloß einen Moment die Augen und öffnete sie gleich wieder. »Ja«, murmelte er. »Es ist ihr in letzter Zeit gar nicht gutgegangen, wissen Sie.« Er nahm sich mit einer sichtbaren Anstrengung zusammen. »Ich danke
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