Das Erbe des Vaters
überwachsen. Braunstengelige Stauden rosafarbener Weidenröschen wucherten in den Ruinen, und in der aufgeworfenen Erde glänzten Pfützen. Die Häuser auf der anderen Seite bekamen keine Sonne, Feuchtigkeit rann an den hohen georgianischen Fenstern herunter und hinterließ Flecken auf der Mauer. In den Vorgärten standen rußige Lorbeerbüsche zwischen Mülltonnen und rostigen Kinderwagenrädern.
Romy stieg die Treppe zu Haus Nummer 18 hinauf. Neben der Haustür war ein langes Klingelschild mit Namen. Auf dem Schild von 18d stand »R. Hopkins«. War Jem noch nicht dazu gekommen, den Namen des früheren Mieters zu entfernen? Oder teilte er die Wohnung mit einem Freund? Sie klingelte und wartete, plötzlich sehr froh, ihn gleich wiederzusehen.
Drinnen hörte sie Schritte. Riegel rasselten, Schlösser knirschten. Ein blondes Mädchen mit Lockenwicklern im Haar öffnete die Tür.
»Ja?«
»Ist Jem da?« fragte Romy.
»Jem?«
»Jem Cole. Er ist mein Bruder.«
»Ich kenne keinen Jem.« Das Mädchen wollte die Tür schließen, doch Romy sagte hastig: »Er wohnt aber hier. Kingsbury Road 18d.«
»In 18d wohne ich.« Das Mädchen wirkte ungeduldig und gelangweilt. »Ich bin vor einer Woche eingezogen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat Jim –«
»Jem.«
»Gut, dann eben Jem. Vielleicht hatte er vor mir das Zimmer.«
»Aber ich muß ihn finden.«
»Da kann ich Ihnen leider nicht helfen. Aber reden Sie mal mit Mrs. Hennessy. Sie ist die Zimmerwirtin.« Sie hielt die Wohnungstür auf und ging dann Romy voraus einen Korridor hinunter. Dort klopfte sie an eine Tür. »Mrs. Hennessy! Besuch für Sie!«
Die Tür wurde von einer kleinen, gebückten Frau geöffnet, die ein Paisleytuch um ihr schwarzes Haar geschlungen hatte. Romy erklärte, daß sie Jem suchte.
»Der ist weg«, sagte Mrs. Hennessy an ihrer Zigarette paffend. »Schon vor mehr als einer Woche.«
Romy erschrak. »Weg? Wohin?«
»Keine Ahnung, Kindchen.« Mrs. Hennessy lachte. »Er hat mir keine Adresse dagelassen. Er ist bei Nacht und Nebel verschwunden, der Gauner. Wenn Sie ihn finden, erinnern Sie ihn dran, daß er mir zwei Wochen Miete schuldet.« Sie schlug die Tür zu.
Wieder auf der Straße, begann Romy automatisch zu gehen. Alle frohe Erregung war Furcht gewichen. Jem war fort. Jem war verschwunden, ohne die Miete zu bezahlen. Wie sollte sie ihn in dieser Riesenstadt finden? Und was sollte sie tun, wenn es ihr nicht gelang, ihn zu finden?
Sie ging zum Untergrundbahnhof zurück. Wieder starrte sie den Plan mit den sich kreuzenden farbigen Linien an. Sie sah, daß es eine Haltestelle mit dem Namen Tower Hill gab, und erinnerte sich der Bilder auf der Postkarte: die Brücke und der Tower. Vielleicht war die Karte ein Hinweis; vielleicht arbeitete Jem irgendwo in der Nähe des Tower und hatte die Ansichtskarte eines Abends gekauft, nachdem er den ganzen Tag in einem Pub bedient oder Gläser gespült hatte.
Sie nahm die Bahn nach Tower Hill. Sie konnte die Themse riechen und hören, bevor sie sie sah. Die Wolken hatten sich gelichtet, und wenn die Sonne sich zeigte, glitzerte das Wasser – das nicht türkisblau war wie auf der Postkarte, sondern grünlichbraun – in ihrem Licht. Schiffe drängten sich auf dem Fluß, Nebelhörner tuteten, und die Rufe der Seeleute schallten über das Wasser.
Sie lief bis zum Umfallen an diesem Tag. Über die Brücke und um den Tower herum, jede Seitenstraße hinauf und hinunter. Ihre Zuversicht trübte sich mit dem Verstreichen der Zeit. Sie fragte in unzähligen Pubs, Läden und Cafés nach Jem, aber niemand hatte von ihm gehört. Die Sonne verschwand, und es begann wieder zu regnen. Ihr dünner Regenmantel war bald durchweicht. Sie fror. Die hochhackigen Schuhe, die sie sich fürs Büro gekauft hatte, zwickten, und die Beule über ihrer Wange schmerzte. Sie hatte seit mehr als vierundzwanzig Stunden kaum geschlafen.
Am späten Nachmittag ging sie, schwach vor Hunger und Erschöpfung, in ein Café und bestellte Eier, Chips und Tee. Sie verschlang das karge Mahl gierig und wischte das Eigelb und das Fritierfett mit dem letzten Stückchen Brot auf. In dem Café war es warm, sie hätte leicht einschlafen können, aber sie zwang sich, wach zu bleiben. Sie mußte nachdenken, Pläne machen, doch ihr müdes Hirn verweigerte den Dienst, bot keine Lösungen. Sie wußte nicht, wie sie Jem finden sollte. Ihr Blick war unverwandt auf die Straße draußen vor dem Fenster gerichtet und suchte in den
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