Das Erbe des Vaters
hinunter. In einem kleinen Café voller Fabrikarbeiter kaufte sich Romy eine Tasse Tee und einen Toast – mehr konnte sie sich nicht leisten, da sie nur noch sieben Shillinge und sechs Pence in der Geldbörse hatte.
Sie mußte länger als eine Stunde mit erhobenem Daumen an der Fernstraße stehen, ehe ein Lastwagenfahrer sie mitnahm. Sie teilte ihre Kekse mit ihm; er kaufte ihr an einer Bude auf einem Parkplatz in der Nähe von Reading einen Becher Tee und ein Schinkenbrot. Er war ein gutmütiger, väterlicher Mann, den es beunruhigte, daß sie ganz allein nach London wollte. Vermutlich, dachte sie, war ihm aufgefallen, daß sie kein Gepäck bei sich hatte. Und vermutlich war ihm auch der blaue Fleck aufgefallen, den Dennis’ Schlag in ihrem Gesicht hinterlassen hatte. Sie bemühte sich, seine Besorgnis zu beschwichtigen. Ihr Bruder lebe in London; sie werde zunächst einmal zu ihm ziehen. Der Mann hatte einen Stadtplan bei sich; er suchte die Kingsbury Road heraus und schrieb ihr auf einem Zettel auf, wie sie dorthin kam. Als er ihr bei einem Untergrundbahnhof aus dem Wagen half, drückte er ihr zum Abschied einen Zehn-Shilling-Schein in die Hand.
Es war neun Uhr morgens. Ein einziges Mal war sie mit der Londoner Untergrundbahn gefahren, auf dem Schulausflug, zusammen mit dreißig anderen Mädchen. Sie studierte den Plan an der Wand, aber sie wurde nicht klug aus den farbigen Linien und Punkten. Wie verloren stand sie von hastenden Menschen umgeben in der Vorhalle des Bahnhofs und versuchte, die aufsteigende Panik zu bezwingen. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und fragte den Mann am Fahrkartenschalter, wie sie fahren müsse. Central Line bis Holborn, sagte er, ohne den Kopf zu heben, dann umsteigen in die Piccadilly Line Richtung Finsbury Park. Ihre Fahrkarte fest in der Hand, stürzte sie sich ins Gewühl und ließ sich von einer Rolltreppe in die Tiefe tragen.
Männer in Nadelstreifen und Melonen drängten sich an ihr vorbei. Alle Welt schien es hier furchtbar eilig zu haben. Trotz der Ereignisse der vergangenen Nacht, trotz Müdigkeit und Verwirrung, packte sie Erregung. Der Lärm und die allgemeine Geschäftigkeit hatten etwas Mitreißendes; selbst der staubige Geruch des Untergrundbahnhofs schien Abenteuer und ungeahnte Möglichkeiten zu versprechen.
Auf der Fahrt mußte sie stehen. Sie hielt sich an der Rückenlehne einer Sitzbank fest und fürchtete bei jedem Ruck, den der Zug tat, einem anderen Mitfahrenden auf den Schoß zu fallen. Sie registrierte, daß die korrekt gekleideten Geschäftsmänner ihre Zeitungen zum Lesen ganz klein falteten und das Gedränge um sie herum gar nicht wahrzunehmen schienen. Es waren auch viele junge Mädchen im Zug, etwa im gleichen Alter wie sie selbst, vermutlich auf dem Weg in Büros oder Geschäfte. Sie sah sich genau an, wie sie sich kleideten und ihr Haar trugen, und blickte dazwischen immer wieder ängstlich auf den Plan im Waggon, um nur ja nicht ihre Haltestelle zu verpassen. In Holborn, wo sie umsteigen mußte, blies ein warmer Wind durch die dunklen Tunnel; an den Wänden klebten Plakate, die sie aufforderten, im sonnigen Brighton Urlaub zu machen und Macleans Zahnpasta zu kaufen.
In Finsbury Park stieg sie wieder zur Oberfläche hinauf. Die Straße roch nach Abgasen und feuchten Pflastersteinen. Es hatte zu regnen begonnen. Der feine Nieselregen setzte sich in ihr Haar und drang durch den billigen Stoff ihres Mantels. Sie nahm den Zettel mit der Wegbeschreibung des Fernfahrers heraus. Autos hupten sie an, als sie mitten durch den Verkehr über eine stark befahrene Straße rannte; sie mußte zur Seite springen, um dem Fahrrad eines Botenjungen auszuweichen, der den Bürgersteig entlangflitzte. Sie sah zu den hohen Häusern hinauf, die alle so eng beieinander standen.
Einmal verlief sie sich und mußte die ganze Seven Sisters Road zurückgehen. Sie las die Straßenschilder. Fonthill Road, Stroud Green Road, Woodstock Road. Mütter schoben ihre Kinderwagen von Geschäft zu Geschäft, und eine sehr alte Frau mit einem halben Dutzend Einkaufstüten in den arthritischen Händen schlurfte mühsam den Bürgersteig hinunter. Aus einem offenen Fenster wehten Saxophonklänge, exotisch in der grauen Londoner Luft.
Romy bog um eine Ecke, und da war endlich die Kingsbury Road. Sie hatte nichts mit ihren Vorstellungen gemeinsam. Sie war keine Spur großartig. Das Trümmergrundstück auf der einen Straßenseite war von hohem Unkraut und jungen Bäumchen
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