Das Erbe des Vaters
sie sich zusammen Meine Cousine Rachel anschauten, unentwegt in den Zähnen herum; ein anderer unterhielt sie den ganzen Abend mit einem Bericht darüber, wie er sein altes Auto wieder aufgemöbelt hatte. Wenn sie Jake von ihren unzulänglichen Verehren erzählte, lachte er sich jedesmal kaputt.
Es störte sie nicht, daß nichts von Dauer war; sie hatte kein Verlangen nach Liebe und Herzschmerz. Sie wollte Spaß, und den fand sie in Soho. In Soho war man optimistisch, ausgelassen, tolerant. In Soho brach man die Regeln, die England im Sumpf der Stagnation der Mittfünfziger festhielten. Mit Jake aß sie Austern bei Wheeler, wo man an rohen Holztischen saß, die mit Platten voll dunklem Brot sowie kleinen Schalen mit Oliven und Radieschen gedeckt waren. Jake lud sie im Café Torino zu ihrem ersten Espresso ein; Romy spendierte ihm Fernet Branca, wenn er einen Kater hatte. Wenn sie die Zeit vergaßen und redeten, bis es draußen hell wurde, kauften sie sich an Mr. Bills Kaffeestand auf dem zugewachsenen Trümmergrundstück bei der St.-Anne’s-Kirche Rosinenbrötchen und aßen sie auf dem Weg das Embankment entlang zu Jakes Wohnung am Apollo Place.
An ihren freien Nachmittagen tanzte Romy mit Jake im Caves de France, wo ein Trio altmodische Tanzmusik spielte. Manchmal tanzten auf der kleinen Tanzfläche Männer miteinander, eng umschlungen, die Blicke ineinander versenkt. Anfangs fand sie den Anblick schockierend, aber ihr wurde bald klar, daß diese Reaktion genau wie viele Angewohnheiten, die sie gehabt hatte und immer noch hatte, eine Folge ihrer kleinbürgerlichen Herkunft war. Es gab natürlich Lokale, in die Jake sie nicht mitnahm; zuerst murrte sie, dann erzählte er ihr, was dort getrieben wurde, und als sie verstummte, sagte er triumphierend: »Ha! Ich hab doch gewußt, daß du entrüstet sein würdest. Einmal eine Landpomeranze, immer eine Landpomeranze!«
Zum erstenmal in ihrem Leben war sie völlig unbeschwert. Natürlich nicht die ganze Zeit über. Wenn sie im Trelawney Dienst hatte, arbeitete sie gewissenhaft und ehrgeizig und gewann jeden Tag an Erfahrung, indem sie die verschiedenen Abteilungen des Betriebs durchlief. Es könne ihr nur nützlich sein, erklärte Mrs. Plummer, sich in allen Bereichen auszukennen. Wenn von den Angestellten jemand wegen Urlaubs oder Krankheit ausfiel, sprang Romy ein. Vierzehn Tage lang half sie dem Souschef in der Küche beim Gemüseschnippeln und Salatanrichten. Am Empfang kümmerte sie sich eine Woche lang um Gäste, die Beschwerden vorbrachten, und in der folgenden Woche zählte sie zusammen mit der Haushälterin, einer netten Frau namens Mrs. Harper, Kopfkissenbezüge und Bettlaken. Sie lernte, daß ein Festessen oder ein Hochzeitsempfang mit beinahe militärischer Präzision vorbereitet werden mußten, wenn sie reibungslos klappen sollten. Sie machte mit den Stammgästen des Trelawney Bekanntschaft und lernte ihre Vorlieben und ihre Abneigungen sowie ihre kleinen Eigenheiten und Marotten kennen. Sie wußte, wie ein bestimmter Gast das Schreibzeug auf dem Sekretär in seinem Zimmer vorzufinden erwartete, und wer, obwohl beileibe nicht arm, unweigerlich mit den Hotelhandtüchern im Koffer abreiste. Sie lernte, nicht ohne Schwierigkeiten, niemals die Beherrschung zu verlieren und immer höflich zu sein, auch wenn die Provokation noch so groß war. Sie begann zu erkennen, was an der Arbeit im Hotel ihr eigentlich soviel bedeutete: Die Ordnung war es, dieses Gefühl, daß alles seine Zeit und seinen Platz hatte. Die ersten neunzehn Jahre ihres Lebens waren von Gewalt und Planlosigkeit geprägt gewesen; jetzt erst wurde ihr bewußt, daß sie sich nach Ordnung, Harmonie und festen Formen sehnte.
Zweimal im Jahr reiste sie nach Stratton, im Januar und im August. Anfangs hatte sie immer ein Taschenmesser bei sich. Sie hätte nicht gezögert, es zu benützen, wenn Dennis es gewagt hätte, sie anzurühren. Aber Dennis schien den Zwischenfall vergessen zu haben, der sie zur Flucht aus dem Haus am Hill View getrieben hatte. Schon merkwürdig, dachte sie bitter, daß etwas, was für sie so entsetzlich gewesen war, bei ihm keinerlei Erinnerung hinterlassen hatte.
Bei ihren Besuchen zu Hause fuhr sie mit ihrer Mutter nach Romsey und lud sie zum Mittagessen in ein Restaurant ein. Martha arbeitete fünf Abende die Woche in einem Pub in Stratton; sie hatte jetzt ihr eigenes Geld, das sie vor Dennis versteckte. Dennis hatte Arbeit auf einer Baustelle in Bristol, wo der alte
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