Das Erbe des Vaters
einer Ecke stand ein weißer Flieder, und unter einer wuchernden Masse wilder Clematis war eine Zaubernuß versteckt, deren gelbe Blüten in den kältesten und dunkelsten Monaten des Jahres wie kleine Sonnen glühen würden.
Am Mittag servierte ihm Mrs. Zbigniew Wurstbrote und Süßigkeiten und zeigte ihm Photos von ihrem Sohn, der im Krieg Bomberpilot bei der Königlichen Luftwaffe gewesen war. Jetzt lebte er mit seiner Frau und drei Kindern in Rotherham. »Laszlo ist sehr groß, genau wie Sie, Caleb«, sagte Mrs. Zbigniew und hob die kleine Hand in Richtung zur Zimmerdecke. »Aber dicker, viel dicker als Sie.«
Er arbeitete bis spät in den Abend und war erst um zwanzig nach zehn wieder zu Hause. Die Haustür war abgesperrt. Er hätte der Hausordnung entsprechend spätestens Punkt zweiundzwanzig Uhr dasein müssen. Gerade überlegte er, ob er im Geräteschuppen übernachten oder an die Tür klopfen und Mrs. Talbots Zorn auf sich ziehen sollte, als er hörte, wie die Riegel zurückgeschoben wurden.
Heidi, die Tochter des Hauses, stand vor ihm. Sie legte den Finger auf den Mund. »Pscht.«
Leise verriegelte sie hinter ihm die Tür wieder und winkte ihn in den Salon. So nannte Mrs. Talbot das Zimmer, ihren Salon. Caleb mußte dabei immer an Spitzendeckchen und alte Jungfern in Morgenhäubchen denken.
»Ich habe auf Sie gewartet«, flüsterte Heidi.
»Das war nett von dir. Vielen Dank.« Erklärend fügte er hinzu: »Der Zug hatte Verspätung.«
»Möchten Sie was essen?«
»Danke, nein, ich bin nicht hungrig.«
Aber sie sagte: »Ich habe Ihnen extra was gemacht«, und brachte einen Teller und eine Thermosflasche zum Vorschein. Sie stellte beides auf einen Tisch mit spindeldünnen Beinen und winkte ihm.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr noch einmal seinen Dank auszusprechen und sich niederzusetzen und zu essen. Heidi blieb neben ihm stehen und sah zu. Er hatte Mühe zu schlucken. Die mit Ei belegten Brot waren zäh wie Gummi, und in Heidis etwas vorstehenden braunen Augen lag ein Ausdruck, der ihm Unbehagen einflößte. Sie war ein kräftiges, gutgebautes junges Mädchen mit mausbraunem Haar, das hinten zu einem Mozartzopf gebunden war. Der Pulli ihrer Schuluniform spannte über ihren vollen Brüsten. Eines Tages, dachte er zerstreut, würden sie sich zu einer einzigen wogenden Masse vereinigen, und sie würde aussehen wie ihre Mutter.
»Du brauchst wirklich nicht aufzubleiben, Heidi«, sagte er. »Du bist doch bestimmt müde.«
Aber sie blieb, wo sie war, eine Wächterin an seiner Seite. »Ich bin nicht müde. Ich gehe nie vor Mitternacht ins Bett. Ich schreibe Tagebuch.«
»Ach?« Er sah sie vor sich, wie sie schwer atmend mit vorgeschobener Zunge ihre pubertären Phantasien niederkritzelte.
»Schreiben Sie Tagebuch, Caleb?«
Er schüttelte den Kopf. »Da gäbe es nicht viel zu schreiben.«
»Haben Sie eine Freundin?«
»Im Augenblick nicht«, sagte er vorsichtig.
»Haben Sie schon viele Freundinnen gehabt?«
Zum erstenmal kam ihm der gräßliche Gedanke, daß ihr Interesse an ihm über die unverbindliche Freundlichkeit der Tochter des Hauses gegenüber dem Untermieter hinausging. Aber er wehrte die Vorstellung augenblicklich ab. Sie war ja erst sechzehn. Schlimmstenfalls war sie ein wenig in ihn verschossen.
Trotzdem stieg plötzlich ein Bild vor ihm auf, wie sie ihren Pullover auszog und ihr strähniges Haar aus dem Gummiband befreite. Hastig würgte er die letzten Bissen seines Brots hinunter, schraubte die Thermosflasche zu und stand auf. »Das war große Klasse, Heidi«, sagte er im kernigen Ton des großen Bruders. »Soll ich das in die Küche bringen?«
»Nein, das mach ich schon.« Ihre blassen Finger streiften seine, als sie ihm Teller und Thermosflasche abnahm.
Einige Wochen später hatte Caleb die Planungsarbeiten für Mrs. Zbigniews Garten zum größten Teil abgeschlossen und konnte die Arbeit in Angriff nehmen, die ihm die größte Freude machte, das Pflanzen und Säen.
Es war herbstlich geworden, die Sonne ging früher unter, vom Fliederstrauch fielen die ersten Blätter. Caleb, der an einem Freitag nachmittag, als das Licht dünn wurde, seine Geräte zusammenpackte, hatte keine Lust, direkt nach Reading zurückzufahren. Er brauchte Geselligkeit, Menschen; er wollte das langsame Entstehen seines Gartens feiern. Außerdem hatte Heidi es sich zur Gewohnheit gemacht, ihm abends eine Tasse milchigen Tee ins Zimmer zu bringen und sich auf seinem Bett niederzulassen, um ihn
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