Das Erbe Ilvaleriens (Die Chroniken von Vanafelgar) (German Edition)
Kindes. Whenda hatte aufpassen müssen, denn das Mädchen versuchte noch immer, den Kopf hin- und herzubewegen. Mit ihrer linken Hand gelang es ihr jedoch, diesen einen Moment lang festzuhalten. Dann ließ sie ihn wieder los und betrachtete das Kind. Nach kurzer Zeit schon begann das Mädchen, die Tinktur in seinem Mund zu schmecken und Whenda war zufrieden. Sehr schnell ließ das Zittern der Kranken nach. Es dauerte nur einige Minuten, bis das Kind ganz ruhig vor ihr lag. Hoffentlich war die Betäubung nicht zu stark. Es handelte sich um ein sehr starkes Betäubungsmittel. Zwei Tropfen davon reichten aus, um einen großen, erwachsenen Mann fünf bis sechs Stunden zu betäuben. Kindern das Tonikum zu verabreichen war sehr gefährlich, das wusste sie. Manchmal kam es auch vor, dass Erwachsene nicht mehr aus dem Betäubungsschlaf des Eldenkrauts erwachten.
Wie die Tinktur genau hergestellt wurde, wusste sie nicht zu sagen. Nie hatte sie es selbst versucht. Das Fläschchen, welches sie bei sich trug, hatte sie vom obersten Heiler der Königin in Tharvanäa erhalten. Whenda hatte gewusst, dass sie auf einer solch langen Reise medizinisches Gerät und Tränke brauchen würde. Wenn schon nicht für sich selbst, dann für andere. Die exakte und genaue Zusammensetzung dieser Tinktur erforderte ein großes Verständnis der Heilmittelzubereitung. Jene, die sich darin verstanden, benutzten Waagen, auf denen sich sogar das Gewicht einer Feder messen ließ. Die Teile, die sie enthielt, mussten so fein aufeinander abgestimmt sein, dass es fast unmöglich schien, dies zu bewerkstelligen. Soweit Whenda wusste, hatte Norna, die älteste der Nornenkinder, die schon in Ilvalerien als die größte aller Heilerinnen der Anyanar galt, das Geheimnis des Eldenkrauts entdeckt. Und sie war es auch gewesen, die die exakte Zusammensetzung erprobt hatte. Seit dieser Entdeckung zog kein Heer der Anyanar mehr aus, ohne einen Vorrat dieses Betäubungsmittels mit sich zu führen. Viele andere Dinge, die der medizinischen Versorgung dienten, hatte Norna ebenfalls erfunden, so auch die kleinen Schaber, die vor Whenda lagen. Norna hatte auch die ersten Bestecke für Eingriffe in den Körper ersonnen. Heute gehörten sie meist zu der Standardausrüstung der Feldscher, aber früher einmal galt es als Zauberei. Wie Norna es jedoch geschafft hatte, das Eldenwasser, wie die Tinktur dank ihres durchsichtigen Aussehens genannt wurde, richtig zu dosieren, das blieb Whenda ein Rätsel. Man konnte schließlich nicht einfach damit drauflosexperimentieren. War die Dosis zu hoch, starb der zu Betäubende gar. Es sollte sogar schon vorgekommen sein, dass Betäubte nicht mehr aus dem Schlaf des Eldenwassers erwacht waren. Abergläubische behaupteten dann, dass dies der Preis der Nornen sei. Denn die Schwester Nornas, Ennorna, schlief seit langen Jahren einen unseligen Schlaf, aus dem sie nie mehr erwachen konnte. Whenda hielt dies jedoch für dummes Zeug. Sie kannte Norna und wusste um deren Kenntnis der Heilkunde und auch, dass sie eine kluge Frau war, die nichts Böses im Sinne führte. Sie mochte manchmal etwas gedrückt und düsterer Stimmung sein, doch mehr war da nicht. Zu zaubern, wie es ihr nachgesagt wurde, vermochte Norna sicher nicht.
Whenda musste dem Kind nun erneut an den Fuß fassen, um festzustellen, wie weit der Zersetzungsprozess sich schon fortgepflanzt hatte. An der Spitze der großen Zehe ließ sich das schwarze, abgestorbene Fleisch schon fast ablösen. Es hatte keinen Zusammenhalt mehr. Whenda unterließ es jedoch, weiter daran herumzuziehen. Sie betrachtete die Linie, an der sie beabsichtigte, den Fuß durchzuschneiden. Den kleinen Zeh würde das Mädchen behalten können. Doch alle anderen, und auch die vorderen Knochen der Zehen, würde sie entfernen müssen. Whenda hielt sich zwar nicht für eine Heilerin. Doch jeder, der sie aus Maladan kannte, hätte sofort das Gegenteil behauptet. In ihrer neuen Heimat ging sie, nach dem Fall des Neuen Reiches von Fengol eine Beschäftigung suchend, bei einem Heiler in die Lehre. Dieser Mann wusste nicht, wer sie war, selten sprach sie mit irgendjemandem darüber. Er zeigte ihr all seine Künste und sie lernte schnell , denn es gab viele Patienten zu behandeln. Meist waren es Brüche oder zerstörte Gliedmaßen, mit denen die Anyanar zu ihnen kamen. Über normale Krankheiten oder die Krankheiten der Menschen wusste sie so gut wie gar nichts, denn diese befielen ihr Volk nicht. Der Heiler, bei dem sie
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