Das Erbe von Glen Crannach
erzählen, die ihr im Laufe des Tages widerfahren waren. Sie hatte ohnehin manchmal das Gefühl, dass er sich zu viel Sorgen um sie machte.
“Dieser McKeown, der Enkel des Lords – kommst du denn mit ihm zurecht?”
Camilla verdrehte die Augen. Wenn Eric wüsste!
“Er hat mir kurz die Sammlung gezeigt”, sagte sie, ohne auf die eigentliche Frage einzugehen, “und die ist noch beeindruckender, als ich erwartet hatte. Es sieht aus, als würde mir dieser Auftrag mehr abverlangen als alles, was ich je gemacht habe.” Aus mehr als einem Grund, dachte sie, doch auch das behielt sie für sich. “Und wie geht es dir?”, erkundigte sie sich rasch, ehe Eric weiterfragen konnte. “Was hast du heute gemacht?”
Im Grunde wusste sie das. Heute war Freitag, und da spielte Eric während der Mittagspause immer Squash. Davon war er dann meistens so müde, dass er den Abend vor dem Fernseher verbrachte. Dennoch hörte Camilla aufmerksam zu, während er über seinen Tagesablauf berichtete, und fühlte sich beschützt und geborgen, als er mit den Worten endete: “Ich vermisse dich, mein Schatz.”
“Ich dich auch.” Das meinte sie wirklich so. “Aber es ist ja nicht für lange. Ehe du dich versiehst, bin ich wieder da.”
Er gab ihr einen Kuss durchs Telefon. “Ich rufe bald wieder an”, versprach er. “Pass inzwischen gut auf dich auf und denke über die Antwort auf die Frage nach, die ich dir neulich abends gestellt habe.”
Camilla lächelte selig, nachdem sie aufgelegt hatte. Der liebe Eric! Eigentlich hätte sie ihm sofort antworten können. Wenn es etwas gab, dessen sie sich absolut sicher war, dann das. Sie war fest entschlossen, seinen Heiratsantrag anzunehmen.
Camilla stand auf und trat vor den Spiegel am Kleiderschrank, um sich zu betrachten. So selbstbewusst sie sich anderen gegenüber zeigte, so unsicher fühlte sie sich im Grunde. Manchmal konnte sie kaum glauben, dass nicht jeder das merkte. Entdeckte denn niemand das verängstigte kleine Mädchen hinter ihrer entschlossenen Miene?
Nein, offensichtlich nicht. Die Maske der Selbstsicherheit, mit der sie sich schützte, zählte zu den Dingen, die sie in den letzten sechs Jahren erreicht hatte.
Sie hatte keine leichte Kindheit gehabt. Mit sieben Jahren verwaist, war Camilla jahrelang von einem Heim zum anderen gereicht worden – mit nur wenigen glücklichen Zwischenspielen in einer Pflegefamilie.
Als sie an ihrem achtzehnten Geburtstag in die Unabhängigkeit entlassen wurde, fühlte sie sich schon lange wie ein Stück Treibgut. Von dem Moment an kannte sie nur ein Ziel – endlich eigene Wurzeln zu schlagen.
Sie nahm etliche Jobs an, um ihr Studium finanzieren zu können. Auch nach dem Collegeabschluss arbeitete sie Tag und Nacht, bis sie die Anzahlung für eine kleine Eigentumswohnung zusammenhatte. Damit war Camilla die ersten beiden Schritte auf dem Weg zu ihrem Ziel vorangekommen. Die Gründung von “Focus” mit Anni und Sue vor drei Jahren war der dritte gewesen. Vielleicht am wichtigsten war jedoch ihre Beziehung zu Eric, den sie zufällig auf einer Party kennengelernt hatte.
Mit Eric fühlte Camilla sich zum ersten Mal nicht mehr allein. Endlich gab es jemanden, der sie wirklich liebte und der ihr die sichere, glückliche Zukunft zu bieten vermochte, nach der sie sich sehnte.
Und sie liebte Eric. Wie konnte sie ihn nicht lieben – nach allem, was er in seiner Zuneigung für sie getan hatte?
Woran liegt es also, dass mir Greg McKeown und seine verächtlichen Bemerkungen heute Nachmittag so nahegegangen sind?, fragte Camilla ihr Spiegelbild. Es hätte mich doch gar nicht kümmern dürfen, was dieser ekelhafte Kerl von Eric denkt, einem Menschen, den Greg McKeown überhaupt nicht kennt!
Sie runzelte die Stirn. Dennoch … fest stand, er hatte es geschafft, sie so in Zorn zu bringen, dass sie sich selbst nicht wiedererkannte.
Sie seufzte und wandte sich ab. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie sich ziemlich eigenartig benommen hatte, seit sie in Schottland angekommen war. Ganz gegen ihre Gewohnheit war sie wie eine Verrückte gefahren und hatte ohne Erlaubnis Aufnahmen gemacht.
Vielleicht liegt es am Klima, dachte sie beklommen. Was auch immer es ist, ich fühle mich hier nicht wohl. Je eher ich wieder nach London und zu Eric zurückkehre, desto glücklicher werde ich sein. Bis dahin …
Entschlossen öffnete Camilla den Schrank. Sie würde Greg McKeown aus ihren Gedanken verbannen, sich anziehen und nach unten zum Essen gehen.
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