Das Erbe von Glen Crannach
sie sich überhaupt befand. Einige Kilometer hinter Loch Maree war es draußen plötzlich dunkel geworden, und der Nieselregen hatte sich zu undurchdringlichem Nebel verdichtet.
Sie lehnte sich vor und spähte durch die Scheibe. Die Sicht betrug nur noch wenige Meter, und Panik erfasste Camilla. Es war schwierig genug gewesen, sich bei Tageslicht in dieser abgelegenen, fast unbewohnten Gegend des schottischen Hochlands zurechtzufinden. Bei solchen Wetterbedingungen war es jedoch geradezu unmöglich.
Und der Nebel wurde immer noch dichter. Bald konnte Camilla kaum das Ende der Kühlerhaube erkennen. An einer Kreuzung bog sie dann kurz entschlossen nach links ab. Aus dieser Richtung war sie gekommen, meinte sie.
“Ganz ruhig, nicht den Kopf verlieren”, redete sie sich halblaut gut zu. “Dann wird es dir bestimmt gelingen, unbeschadet ins Hotel zurückzugelangen.”
Eine weitere Stunde verging, ohne dass Camilla ihr Ziel erreichte, und es fiel ihr zunehmend schwer, gelassen zu bleiben. Sie hatte das Gefühl, im Kreis herumzufahren, und als ihr bewusst wurde, dass sie vielleicht die Nacht auf der Straße verbringen musste, begann sie zu zittern.
Ich bin ganz allein hier draußen in der Wildnis, dachte sie beklommen. Niemand weiß, wo ich bin. Ich könnte erfrieren!
Sie atmete ein paarmal tief durch.
“Nimm dich zusammen!”, befahl sie sich.
Es geschah völlig unerwartet. Plötzlich tauchte aus der Nebelwand ein Schatten vor dem Wagen auf, und ehe Camilla auf die Bremse treten konnte, prallte etwas mit einem dumpfen Geräusch gegen den Kühler.
Camillas Herz schien stehen zu bleiben.
“Oh nein”, flüsterte sie und hielt an.
Instinktiv wusste sie, dass sie ein lebendiges Wesen angefahren hatte. Draußen rührte sich nichts. Ihr war plötzlich so übel, dass sie den Kopf einen Augenblick auf das Lenkrad legen musste. Wenn sie nun einen Menschen getötet hatte?
Sie stieg aus und ging mit zitternden Beinen zu der Stelle, wo etwas am Straßenrand lag.
Als Camilla sah, was es war, schrie sie auf, teils vor Erleichterung, teils vor Verzweiflung und Bedauern. Sie ging in die Hocke und streckte die Hand aus.
Wenigstens war das Opfer kein Mensch. Dafür musste sie dankbar sein. Doch während sie den reglosen Körper betrachtete, zog sich ihr Herz schmerzhaft zusammen. Sie hatte eines der sanftesten Geschöpfe getötet, die es auf der Welt gibt – ein Reh.
Tränen brannten ihr in den Augen. Vorsichtig berührte sie das seidige Ohr und wisperte: “Es tut mir leid. Schrecklich leid.”
Die Tränen begannen zu fließen, sie schluchzte auf. Was half Bedauern jetzt noch? Das arme Tier war tot.
“Sie törichtes Weib! Was machen Sie da?”
Immer noch in der Hocke, drehte sie sich um. Sie hatte die Stimme sofort erkannt. Widersprüchliche Gefühle – Erleichterung, Angst, Groll und Scham – wallten in Camilla auf, als Greg McKeown aus dem Nebel auf sie zukam.
Vor ihr blieb er stehen und schaute auf ihr tränenüberströmtes Gesicht und den reglosen Tierkörper hinab. Dann stieß Greg einen Fluch aus und befahl: “Gehen Sie aus dem Weg. Ich kümmere mich darum.”
Während sie sich aufrichtete, beugte Greg sich über das Reh und tastete geschickt die Brust ab.
“Das Herz schlägt”, sagte er schließlich. “Es lebt also noch.”
Wie aufs Stichwort regte sich das Tier und schlug die Augen auf. Camilla hatte das Gefühl, ein eiserner Ring, der ihr Herz zusammenpresste, sei plötzlich gelockert worden.
“Gott sei Dank!”, rief sie. “Ich habe es nicht umgebracht. Glauben Sie, es wird wieder gesund?”
Greg half dem Reh bereits auf die Beine und untersuchte es dabei auf Verletzungen am Körper und an den Gliedmaßen. “Es war vermutlich nur benommen. Ich nehme an, dass Sie bei diesen Sichtverhältnissen nicht sehr schnell gefahren sind.”
“Nur im Schritttempo”, antwortete Camilla wahrheitsgemäß, errötete jedoch, weil ihr Gregs frühere Bemerkungen über ihre Fahrkünste wieder einfielen. “Das Reh war plötzlich da. Ich konnte den Zusammenstoß nicht verhindern.”
“Wahrscheinlich hatte es sich ebenso verirrt wie Sie.” Er maß sie strafend, bevor er das Tier vorsichtig mit dem Gesicht zum Wald drehte und losließ. Das Reh schüttelte sich und stakste dann davon. Im nächsten Moment war es im Nebel verschwunden.
“Es wird jetzt zu seinem Rudel zurückkehren”, sagte Greg. “Morgen ist es bestimmt wieder ganz in Ordnung.” In seiner Stimme lag ein so mitleidender Unterton, dass
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