Das Erbe von Glen Crannach
“Wissen Sie, wann ich ungefähr mit meinem Wagen rechnen kann? Ich würde irgendwann gern ins Hotel zurückfahren und mich umziehen.”
“Damit müssen Sie warten, bis zwei von meinen Männern abkömmlich sind. Oder nehmen Sie sich ein Taxi.” Er gab sich keine Mühe, seinen Unmut zu verbergen, und in seinen Augen blitzte Ungeduld. “Es ist vielleicht eine unangenehme Überraschung für Sie, Miss Holden, aber manche Leute haben Besseres zu tun, als um Ihretwillen durch die Gegend zu fahren.”
Angus McKeown schaute seinem Enkel nach, als dieser mit langen Schritten den Raum verließ, und sah dann mitfühlend zu Camilla.
“Greg ist nicht absichtlich brüsk”, versicherte der alte Lord ihr. “Er hat derzeit nur sehr viel zu tun. Die Verwaltung des Gutes von Schloss Crannach erfordert eigentlich zwei Vollzeitkräfte, aber er besteht darauf, es allein zu tun. Und er sorgt sich um mich, vor allem seit meiner Krankheit.” Er lächelte entschuldigend. “Glauben Sie mir, er steht unter erheblichem Druck.”
Angus McKeown zuliebe nickte Camilla. “Das glaube ich gern”, stimmte sie verbindlich zu. Insgeheim war sie jedoch davon überzeugt, dass nicht etwa die Arbeitsbelastung, sondern ein angeborener Mangel an Höflichkeit an der schroffen Art seines Enkels schuld war. Trotz seiner vornehmen Abstammung war Greg McKeown ein Barbar, was seine Manieren anging.
Der Lord lehnte sich zurück. “Natürlich liegt es auch an seinem Wesen. Er hat schon immer dazu geneigt, sich zu viel aufzubürden. Einer Herausforderung konnte er noch nie widerstehen, ganz gleich, wie groß das Risiko oder das Opfer war, das ihm dabei abverlangt wurde.”
Während Angus McKeown nachsichtig den Kopf schüttelte, sah Camilla plötzlich Greg als widerspenstigen Jungen vor sich, einen Jungen mit zerzaustem Haar und grenzenloser Energie, der vor keinem Unfug zurückscheute. Wider Willen musste sie lächeln, denn unerklärlicherweise rührte dieses Bild ihr Herz an.
Der alte Lord strich sich das silberweiße Haar zurück. “Es hat von jeher in Gregs Natur gelegen, das Leben in vollen Zügen auszukosten und dabei das Abenteuer zu suchen. Das trifft auch auf seine sogenannte Freizeitgestaltung zu.” Er seufzte. “Schließlich tragen Motorradrennen nicht gerade zur Entspannung bei, oder sind Sie anderer Meinung?”
“Motorradrennen?” Camilla runzelte die Stirn, “Sie meinen, er fährt Rennen auf dem Motorrad, mit dem er gestern herkam?”
“Das ist seine große Leidenschaft. Außerdem ist er verflixt gut. Die meisten Leute haben bereits darauf gewettet, dass er dieses Jahr die Kreismeisterschaften gewinnt.”
Camilla machte große Augen. Gregs Vorstellung von Freizeit bestand also darin, auf zwei Rädern mit über hundertfünfzig Sachen über eine verstaubte Rennstrecke zu rasen. Das Bild, das Camilla dabei vor sich sah, passte genau zu dem Mann, wie sie ihn kannte.
Dennoch – Motorradrennen sind nicht gerade ein vernünftiger Zeitvertreib für jemanden, über dessen Haupt ein Fluch schwebt, dachte sie.
Aber das ist allein seine Sache, sagte sie sich dann und verdrängte die Beklommenheit, die in ihr aufgestiegen war. Er hatte ihr gesagt, er glaube nicht an Flüche, und es stand ihr nicht zu, sich seinetwegen Sorgen zu machen.
Sie schaute auf, als der alte Lord sich wieder vorlehnte. “Werden Sie nächsten Freitag noch hier sein?”, erkundigte er sich.
“Vermutlich”, antwortete sie. “Ich hatte vor, am kommenden Wochenende nach London zurückzukehren.”
“Gut.” Angus McKeown nickte zufrieden. “In diesem Fall sind Sie herzlich zur Feier meines achtundsiebzigsten Geburtstags eingeladen. Wir feiern im Familienkreis, und ich würde es als Ehre betrachten, wenn Sie dabei wären.”
“Vielen Dank, ich komme gern.” Camilla freute sich ehrlich. Gleich darauf fiel ihr ein, dass es einen Menschen gab, der alles andere als begeistert über ihre Anwesenheit sein würde, und diese Gewissheit machte die Aussicht auf das bevorstehende Fest noch reizvoller.
6. KAPITEL
Nach dem Frühstück begleitete der alte Lord Camilla in den Raum, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, und sie suchte die verschiedenen Stücke zusammen, die sie mit nach draußen nehmen wollte.
Leicht gereizt stellte sie fest, dass die geschnitzte Schatulle, die den Goldnebel enthielt, nicht mehr in dem Schrank stand, wo sie vorher gewesen war. Offenbar hatte Greg sie in den Safe zurückgestellt. Doch weshalb hatte er eigens erklärt, sie solle den Schmuck
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