Das Erbstueck
die gotischen Buchstaben unten an der Kanzel mit gründlichem Interesse, lange ehe er verstanden hatte, was eine Schriftsprache ist. Und er liebte die Stimmung in der Kirche, wenn sein Vater dort oben stand und er zusehen konnte, wie dessen Bart auf- und abwippte, wenn er dem Klang der Worte lauschen und sich umschauen und feststellen konnte, welche Wirkung diese Worte auf die Kirchspielkinder ausübten, auf gebeugte Nacken, dicke gefaltete Hände, krumme Rücken unter Boi und Fries. Ein schwacher Seifenduft nach der samstäglichen Wäsche überlagerte die anderen Gerüche von Fisch und Stall.
Mogens freute sich darauf, mit seinem Vater den gesamten Pfarrsprengel Vankøbinge zu besuchen und alle Kirchen zu sehen, in denen der Probst predigte. Aber die Mutter musste mitkommen.
Wenn Christina nicht bei ihm war, weil sie arbeiten musste oder, wie es zu ihren Pflichten als Pastorengattin gehörte, die Kranken von Paullund besuchte, war Mogens still und verwirrt. Er lief durch die Häuser und wartete, puhlte Steinchen aus Mauern, trat mit seinen Holzschuhen in den Sand, bis er die Stelle erreicht hatte, wo dieser feucht wurde, er hielt Ausschau nach den Brüdern, ob sie zu Hause waren und was sie machten, ohne sich daran zu beteiligen oder sich für die ihnen aufgetragene Arbeit zu interessieren, ob sie nun Fische säuberten und zum Dörren aufhängten, ob sie Torfsoden zerschnitten und zu Stapeln türmten oder ob sie hinter der Wand, die den kleinen Küchengarten mit seinen Kartoffeln und Kräutern vor dem Wind schützte, Unkraut jäteten. Dort wuchs auch ein seltenes Mal eine Rose, und
dort hatte ein Apfelbaum vor dem Westwind Zuflucht gesucht. Mogens konnte sich durchaus über diesen Anblick freuen, bis er dann wieder die Mutter vermisste. Er sprach nicht viel mit seinen Brüdern, die lachten über ihn, wenn er auf irgendeine Belanglosigkeit zeigte, weil sie ihm spannend vorkam. Nur mit Frode Nicolai spielte er ein seltenes Mal, wenn der Bruder nicht mit den anderen zusammen sein wollte, aber meistens wollte er das.
Das größte Vergnügen machte es ihm, die Hühner und den Hahn zu beobachten, ihre Machtkämpfe, das gleichmäßige und intensive Picken, die krummen Füße, das leere Starren der Augen, die auf dem Boden das nächste Korn suchten. Ein Huhn war die besondere Auserwählte des Hahns. Es hatte hinten fast keine Federn mehr. Die wunde Haut, die dort zu sehen war, war schon rosenrot und gleichmäßig genoppt, wie Blasen im Wasser. Er hätte diese Haut gern gestreichelt, kam aber nie nahe genug an das Huhn heran. Und vor dem Hahn hatte er schreckliche Angst. Der Anblick des blutvollen, wackelnden Hahnenkamms ängstigte ihn dermaßen, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Wenn er keine Luft bekam, erschien ihm oft das Bild dieses Hahnenkamms. Er hatte das Gefühl, dass er ihm in der Kehle saß und bis zum Bersten mit dunklem Blut voll gesogen war.
Wenn Christina nach Hause kam, riss sie ihn in ihre Arme, und nichts war mehr langweilig oder unmöglich, und dann verschwanden sie. Weg von allen anderen, hinaus auf die braune und unendliche Heide. Seine Schläfen wurden heiß, und sein Herz hämmerte wie ein kleines, zitterndes Tier. Er legte den Mund an ihr Ohrläppchen, wie um daran zu saugen. Und wenn sie ihn an den Kanten der lebensgefährlichen Torfgräben entlangtrug, die nach ihnen zu schnappen schienen, dann schloss er die Augen und wiegte sich im Rhythmus ihres Geborgenheit schenkenden Körpers hin und her. Es war wie das ewige Rollen des Meeres, nur wärmer.
Er wurde sieben. Die Anfälle stellten sich jetzt seltener ein, sie kamen nur noch zweimal im Jahr, im Winter, in der Kälte. Mogens lernte, langsam durch die Nase zu atmen, wenn er ein Kitzeln im Hals verspürte. Er war jetzt auch groß geworden, größer als der ihm im Alter nächste Bruder, Frode. Aber damit endeten die Anzeichen für Gesundheit. Denn die Größe brachte keine Stärke mit sich. Er war und blieb bleich wie eine Muschelschale, mit dünnen Gliedern, dünnen Fingern und einem kantigen, spitzen Schädel mit glatten Flaumhaaren, die in der Sonne weiß wurden. Noch immer gingen er und seine Mutter so häufig wie möglich ihrer eigenen Wege.
»Mutter, wie groß muss ein Vogel sein, damit er nicht fliegen kann?«
»Wie ein Schaf. Oder eine Kuh.«
»Hühner können nicht fliegen. Und die sind klein.«
»Wenn ihre Flügel wachsen dürften, würden sie wegfliegen. Und dann bekämen wir keine Eier.«
»Aber wie groß können
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