Das Erbstueck
Vögel werden, damit sie niemals fliegen können?«
»Wie du.«
»Gibt es so große Vögel?«
»Nein, die gibt es nicht. Glaube ich. Ich weiß es nicht.«
»Wiegt eine Wolke sehr viel?«
»Das weiß ich nicht.«
»Aber Wolken fliegen, Mutter.«
»Die fliegen nicht. Die schweben. So wie die Vögel, wenn sie auf dem Wasser liegen. Oder die Schiffe. Sie werden von dem getragen, was sie unter sich haben.«
»Aber was haben die Wolken unter sich?«
»Ganz viel Luft.«
»Man fällt durch Luft hindurch, Mutter.«
»Nein, Luft kann sehr stark sein. Und oben, wo die Wolken sind, ist die Luft stark.«
»Starke Luft ...«, Mogens lachte laut.
»Ja, was glaubst du denn, was Wind ist?«
Er überlegte kurz. »Starke Luft.«
»Genau. Die Wolken werden vom Wind getragen. Und deshalb brauchen sie nicht zu fliegen.«
»Warum darf ich nicht sticken lernen?«
»Sticken? Warum willst du das? Jungen sticken nicht.«
»Und wenn ich das stickte, was mein Vater gern liest?«
»Dann musst du erst lesen und schreiben lernen. Und das habe ich dir noch nicht erzählt. Dein Vater wird dir Unterricht geben.«
»Wird er das?«
Mogens schaute in das schöne Gesicht seiner Mutter. Einige blonde Haare hatten sich aus dem Knoten gelöst und flatterten durch die Luft, wie lange Vogelfedern an ihren Ohren. Als kleiner Junge hatte er den Haarknoten lösen und die Haare im Wind wehen lassen dürfen. Jetzt bat er nicht darum. Er schaute ihr in die Augen, die plötzlich traurig wurden.
»Ja, das wird er. Du wirst alles Mögliche lernen. Jeden Tag wirst du zwei Stunden lang mit deinem Vater in seinem Zimmer sitzen. Für den Anfang.«
»Warum in seinem Zimmer? Warum nur ich? Warum nicht am Küchentisch, so wie früher?«
»Weil man zum Lernen Ruhe braucht. Und nur du, weil dein Vater das so will.«
»Willst du das nicht?«
»Was sagst du?« Sie musterte ihn streng. »Natürlich will ich, dass du ganz viel lernst. Vielleicht möchtest du später ja auch Pastor werden?«
Mogens nickte ernst. Inzwischen kannte er schließlich jede einzelne Kirche im Sprengel Vankøbinge. Aber noch immer war ihm ihre eigene in Paullund die liebste.
»Wann fangen wir an? Mein Vater und ich?«
»Am Montag.«
»Und du wirst nicht mit uns zusammen sein, Mutter?«
»Nein.«
Trotzdem verlor er nicht die Freude an dieser Neuigkeit. Und trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf, eines Tages sticken zu lernen. Das war doch auch etwas, das man lernen konnte, etwas Wichtiges. Es war schön, und es war von Menschen geschaffen, genau wie die Dekorationen in der Kirche oder die Goldkrone der Jungfrau Maria. Man konnte die Pinselstriche ja geradezu ahnen.
Die Stickereien waren zu Hause im Wohnzimmer das Schönste, worauf er seine Blicke richten konnte. Und das Allerschönste war das gestickte Bild, das die Mutter dem Vater zur Hochzeit geschenkt hatte. Mit Kreuzstich und in eleganten, verschnörkelten Buchstaben stand dort: Nulla dies sine linea. Er wusste, es bedeutete, dass man nicht einen einzigen Tag verstreichen lassen sollte, ohne irgendeine Arbeit verrichtet zu haben.
»Aber was ist mit den Sonntagen?«, hatte er den Vater gefragt. »Du arbeitest ja bei der Predigt und in der Kirche, aber was ist mit uns anderen?«
Der Vater hatte auf sein Herz gezeigt und gesagt: »Wenn du mir zuhörst, arbeitest du auch, hier drinnen, für den Herrn, deinen Gott, den Allmächtigen. Dazu ist der Sonntag da.«
Solche nützlichen Dinge müsste doch auch er sticken können. Und zwar in Farben! In den Häusern gab es so wenige Farben. Fast keine. Sie hatten sechs gute Tassen mit Untertassen, neben den vielen schlichten Bechern aus Steingut oder Blech; der einen fehlte der Henkel, aber auf die eine Seite waren grüne Bäume gemalt. Mogens kannte an grünen Bäumen fast nur die Wacholdersträucher, die sich flach an den Boden klammerten. Das hier aber waren schlanke, hoch gewachsene Bäume, die einen Karrenweg säumten, ein Buchenwald im Mittsommer, mit Blumen wie blaue Punkte auf dem Boden zwischen den Stämmen.
»Werde ich richtig schreiben lernen, Mutter?«
»Ja.«
»Und richtig lesen?«
»Ja.«
Christina ging mit schweren Schritten nach Hause. Sie dachte: Ich werde wieder schwanger. Oder vielleicht nicht.
Ihre ersten vier waren vor der Einschulung am Küchentisch im einfachen Schreiben und Lesen unterrichtet worden, mit Kohlestift und grauem Papier, das Christina billig in Villebro gekauft hatte. Sie waren zum Teil vom Vater und zum Teil auch von Christina
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