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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Christina dachte, Hebamme Klüges Tod komme durch Mogens’ Krankheit zum Ausdruck, wenn er um Atem rang und keine Luft bekam, ebenso halb erstickt wie die Frau, die ihn in dieses irdische Jammertal geholt hatte.

    Der Pastor wollte davon nichts hören. Christina erwähnte es nur einmal, danach nie wieder.
    »Das ist Gotteslästerung, was du da sagst«, hatte er erklärt.
    »Aber wenn es trotzdem stimmt?«
    »Gott ist Liebe. Er fügt einem kleinen Kind kein großes Leid zu, um den Tod einer alten Frau zu rächen.«
    »Aber Carl, nicht aus Rache«, widersprach Christina. »Sondern weil sie in den Himmel aufgenommen wurde, nur wenige Stunden nachdem ...«
    »Wir reden nicht mehr darüber.«
    Trotzdem besorgte sie sich in aller Heimlichkeit einige Muscheln und Glückssteine. Sie band sie in ein Stück Damast ein und verbarg das Bündel im Bett des Jungen im Stroh.

    Wenn Mogens gesund war, konnte er vor Licht und Aufgewecktheit strahlen. Seine Hände fanden alles, was die anderen übersahen. Er musterte die Welt mit einem Interesse, das sie nicht verdient hatte, das fanden alle, außer der Mutter. Christina besaß selber Lebenslust und ein funkelndes Gemüt, ganz anders als die Menschen in ihrer Umgebung. Sie hatte aber gelernt, das zu verbergen und als kindisches Verhalten zu betrachten, das sich für eine Pastorenfrau nicht ziemte. Wenn sie mit Mogens zusammen war, bekam sie endlich Gelegenheit für alles, was sie bisher in einer verschlossenen Schublade aufbewahrt hatte.
    Die anderen Kinder waren damit zufrieden gewesen, auf dem Boden zu sitzen und mit einem Holzstöckchen auf den Boden zu schlagen, nach einem vorübergehenden Frauenrock zu greifen, ein wenig auf einem Schoß zu sitzen und sich des eigenen unschuldigen Daumens zu bemächtigen, essen und schlafen zu können. Mogens reichte das nicht. Er wollte hinaus. Er wollte sehen. Er wollte anfassen. Er wollte kosten. Er wollte Schätze sammeln. Und das alles wollte er zusammen mit seiner Mutter tun, hoch oben, mit einem Arm um ihren Hals, mit ihrem Atem an seiner Wange, mit ihrer Stimme im Ohr.

    Mit vier Jahren fand er am Strand sein erstes Stück Bernstein. Es war groß wie eine Kinderfaust und umschloss einen perfekt erhaltenen Käfer. Andere waren hundert Mal achtlos daran vorbeigegangen, aber Mogens fand es und gab es seiner Mutter. Er pflückte Blumen an Stellen, wo niemand bisher welche entdeckt hatte. Er pflückte Heidekraut und machte daraus schöne kleine Sträuße. Er befreite die Disteln von ihren hässlichen Stängeln, sodass man sehen konnte, wie schön die Blüten wirklich waren. Er sammelte die Schwanenfedern, die an Land geschwemmt wurden, wenn große Schwanenscharen sich auf dem Wasser ausgeruht hatten. Er fand von den Wellen geschliffene Steine, die er in den Mund steckte, ehe er sie seiner Mutter zeigte. Er fand poliertes Wrackgut, das an den gefährdeten Küstenstreifen ohne schützenden Schärengürtel angetrieben worden war. Er grub kleine Topfscherben aus dem Sand, deren Glasur noch Reste des aufgemalten Musters aufwies. Er bewunderte den Strandkohl, der in seiner Schlichtheit mitten im Sand blühte. Er genoss den Anblick des Strandhafers, wenn die Rückseiten der Halme sich drehten und in der Sonne wie Silber glänzten. Er konnte ganz still im Sand sitzen und die Wolken über dem Meer ansehen, und er liebte die Wanderung der Vögel und der Wellen an der Wasseroberfläche.
    Christina konnte zusammen mit dem Jungen in dieser Anbetung der Schöpfung schwelgen, ohne dass der Vater das direkt missbilligte, weil Mogens Christian die Kirche mit ebensolcher Kraft liebte wie jeden neuen Heidekrauthalm.
    Die Kirche in diesem Dorf war kein prangendes Bauwerk, weder von außen noch von innen. Die wenigen Ausschmückungen machten deshalb einen besonders großen Eindruck. Mogens liebte die Glasmalerei, die die Hirten auf dem Felde zeigte. Wenn die Sonne durch das Glasmosaik schien und Farbstrahlen durch das Kirchenschiff schickte, war er einfach hingerissen. Er betrachtete die Fliegen, die die Strahlen durchbrachen, und den Staub, der wie Glasstaub glitzerte. Er liebte das Kreuz mit seinen
spärlichen Silberverzierungen, er liebte die kleine Jungfrau Maria mit der Goldkrone auf dem Kopf und dem Jesuskind auf dem Arm, er liebte die heiligen Apostel, deren geschnitzte Bilder im Chor standen, und das kleine Schiff, das unter der Decke hing. Er liebte die Gewänder seines Vaters. Er liebte die roten und grünen Streifen an der Wandtäfelung. Er studierte

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