Das Erbstueck
Wellen tief unten raubte ihr jeglichen Gedanken. Sie spürte nur noch das Gefühl der Sattheit in ihrem Bauch. Wie eine warme Sonne lagen dort unten Brei und Speck und die gute gelbe Milch. Und es besteht kaum Grund zu der Annahme, dass in ihren Gedanken Platz für ein frommeres Gebet gewesen wäre, als darum, die Speise in ihrem Magen liegen und ihr ganz lange Freude machen zu lassen, in dem Moment, in dem sie so weit gekommen war, dass ein Stück Düne nachgab und sie zwölf Meter nach unten auf den Strand stürzen ließ. Dort wurde sie von einer Welle erfasst, einer plötzlichen und enormen Welle, die sich in einer einzigen zusammenhängenden Bewegung aus dem Meer erhob und die Hebamme gelassen und wie ein Nichts verschlang, mit Tasche und Sand im Mund und allem. Einige Sekunden später lagen Dünen und Strand leer wie zuvor da. Und sie wurde erst mehr als zehn Tage später vermisst. Nämlich
dann, als Agnes vom Bodelsenhof mit hervorquellenden Augen nach ihr schrie und neun verängstigte Kinder vor dem Herdfeuer saßen.
Ob das Ende der Hebamme daran schuld war oder ob Gott es so gefügt hatte, das weiß niemand, aber jedenfalls bekam Christina Sol Thygesen seltsamerweise keine weiteren Kinder. Die Hebamme verpasste keine einzige zukünftige Niederkunft im Pfarrhaus. Sieben Stücke Damast blieben auf einem Stapel in der Truhe liegen, mit Schnittkante und ohne Hohlsaum.
M ogens liebte seine Mutter mit einem fieberheißen Eifer, der, wie er schon früh erkannte, allen außer ihr verborgen bleiben musste. Diese Liebe beruhte auf Gegenseitigkeit. Christinas Leben änderte sich von dem Tag an, an dem der kleine Junge in den Händen der Hebamme landete. Alle begriffen, dass er etwas Besonderes war, auch die Brüder, die durchaus nicht mit Eifersucht reagierten. Sie hatten doch einander und waren gleich in Seele und Gemüt, und Mogens war so anders, dass es klar war, dass er auch anders behandelt werden musste. Außerdem war er oft krank, vor allem in seinen ersten drei Lebensjahren. Fürsorge und zusätzliche Verpflegung wurden deshalb zu einer festen Einrichtung.
Das Problem war das Atmen. Seine Kehle schnürte sich zusammen, und er hustete auf schreiende Weise, wie ein Rabe. Diese Anfälle hielten zwei oder drei Stunden an, und in dieser Zeit stand das Haus Kopf. Der Arzt in Villebro hatte ihm kaltes Wasser auf der Stirn und an den Handgelenken und einen Brei aus Wasser, Leinsamen und Althea-Wurzel verschrieben, der mit einem Tuch um seinen Hals gewickelt wurde. Die vier Brüder weinten derweil und hielten sich die Ohren zu, Elise lief ruhelos im Wohnzimmer hin und her, und Probst Thygesen umklammerte die Bibel mit beiden Händen und murmelte einen ununterbrochenen Strom von Gebeten vor sich hin. Auf die erste Seite der Bibel hatte er die Namen aller Kinder samt den Geburtsdaten
geschrieben. Und natürlich hatte er keine Lust, hinter den letzten ein weiteres Datum und ein Kreuz setzen zu müssen.
Christina hielt Mogens im Arm, bis alles vorüber war. Sie streichelte ruhig seinen Rücken und flüsterte ihm Liebesworte ins Ohr, während der Rabe aus seiner Kehle schrie. Nach dem Anfall schlief Mogens erschöpft ein und erwachte bisweilen erst nach zwölf oder vierzehn Stunden. In dieser Zeit schlichen alle durchs Haus, um ihn nicht zu stören.
Der Arzt hatte ihnen auch eingeschärft, dass der Junge durch die Nase atmen müsse, wenn er bei kaltem feuchtem Wetter aus dem Haus ging. Wenn er durch den Mund atmete, sodass Kehle und Lunge direkt berührt wurden, dann konnte das einen Anfall auslösen. Es war natürlich unmöglich, einem kleinen Kind klar zu machen, dass es frische Luft nicht durch den Mund einatmen dürfe. Christina band ihm deshalb ein Tuch um den Mund und machte hinten einen doppelten Knoten. Er riss das Tuch bei der ersten Gelegenheit wieder ab, aber es half doch immerhin für den Moment.
Christina meinte, es hänge mit der Hebamme zusammen. Die war doch von Wasser und Sand erstickt worden. Sie fanden sie im Frühling, eingewachsen in den von den Menschen errichteten Wellenbrecher vor dem Strand, und deshalb wussten sie endlich, was geschehen war. Ihre Tasche hatte sie noch immer bei sich. Sie hatte sie an ihrem Mantel festgebunden und zugleich festgehalten. Doch die Nordsee hatte den irdischen Inhalt durch weißen Flugsand und die schönsten Muscheln und Glückssteine ersetzt: Feuersteine mit einem Loch in der Mitte. Alle dachten an den Meermann und glaubten, er habe die Steine hineingelegt. Und
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