Das Erbstueck
genau, wie die anderen unten saßen und sich amüsierten. Auch Gerts Vater war dabei, und zwei alte Schwestern von Sorens Vater Egil. Und ein junges Mädchen mit straff gekämmten Haaren und weißen Augenwimpern, wie Silberfransen an einer Tischdecke, und weißen Lippen, die sich nur zum Husten öffneten, sie sagte kein Wort.
Doch die Stimme der Mutter war wie Gesang, wie Vogelzwitschern. Es war wunderbar zu wissen, dass die eigene Mutter glücklich drauflos plauderte, mit leuchtenden Augen, und dass das allen gefiel. Gläser klirrten, begleitet von fröhlichem Lachen. Wenn das Dasse wüsste, dass sie da unten ein Fest feierten. Das Radiogrammofon wurde eingeschaltet, vermutlich lag in der Gabel darüber ein Stapel Platten bereit, um auf den Plattenteller zu fallen. Die deutschen Platten der Mutter, auf denen die Schwedin Zarah sang. Ruby lauschte und summte mit, sie spielten eins ihrer Lieblingsstücke: Das muss ein Stück vom Himmel
sein, Wien und der Wein, Wien und der Wein... Fast niemand in der Straße hatte ein Radiogrammofon. In einem Kabinett, mit Rolltüren davor. Es hatte im Haus viel Streit gegeben, mit Geschrei und Türenschlagen, ehe im Vorjahr das Grammofon angeschafft worden war. Doch sie selbst war zu klein, um auf dem Dachboden zu sitzen und sich von allem gelassen dahintragen zu lassen. Sie saß mitten im Lärm und starrte das Klavier an, das die Mutter immer wieder in die Diskussion einbrachte, ohne dass Ruby einen Grund dafür erkennen konnte. Klavier, das war so ein schönes Wort. Wenn die Mutter es aussprach, musste sie das Instrument einfach ansehen.
»Es ist ungerecht, dass ich schlafen muss«, sagte Gert.
»Ich wäre auch gern auf dem Fest dabei gewesen«, sagte Ruby.
»Du? Du bist zu klein. Zeigst du mir deine Muschi?«
»Wieso denn?«
»Zu Hause auf Fünen hab ich schon einige gesehen, da wäre es witzig, auch deine zu kennen.«
»Du hast dreckige Finger. Du bohrst dir in der Nase und puhlst zwischen deinen Zehen herum. Eine Muschi darf man nicht mit beschmutzten Fingern anfassen, das sagt meine Mutter.«
»Ich will doch bloß sehen.«
»Nein. Du bist blöd. BLÖD!«
Bald darauf schlich er nach unten, unter dem Vorwand, pissen zu müssen, und protzte danach vor Ruby damit, dass er in der Küche den Rest aus der Rotweinflasche geleert habe. Sie glaubte ihm, denn er schlief fast sofort ein. Ruby blieb wach und dachte an Søren und seine Seele, die zum Himmel gewandert war. Woraus eine solche Seele wohl gemacht war? Sie stellte sich ein wei ßes Viereck vor, ein Stück Papier, das sich zu den Wolken erhob. Wie ein geliebter Ballon, den man verlor und niemals wiedersah.
Weder sie noch Gert durften mit zur Beerdigung, das durfte nur Ib.
»Er versteht das ja doch noch nicht«, meinte die Mutter und bat den Vater, ihn auf den Arm zu nehmen. Ib war als Einziger nicht schwarz gekleidet. In seinem gelben Spitzenkleidchen und mit der mit rotem Rhabarbersaft gefüllten Nuckelflasche war er ein leuchtender Farbtupfer zwischen den vielen Trauergästen. Er durfte hoch oben auf Vaters Arm sitzen, mit einem breiten, unpassenden Lächeln.
Ruby war enttäuscht. Sie hatte sich darauf gefreut, den Sarg zu sehen. Anna sagte, dass man weinen musste, wenn man einen Sarg sah, der mit Blumen bedeckt vor dem Altar in einer Kirche stand. Man heulte einfach los. Ohne gefallen zu sein oder ausgeschimpft zu werden. Und davon hätte Ruby sich doch gern überzeugt.
Gert rannte in der Straße hin und her und ließ einen Stock an den Zaunlatten entlangwandern, während die anderen in Simon Peters Kirche saßen. Diese Kirche trug denselben Namen wie ein Pferd, das die Mutter als Kind gekannt hatte. Niemand kümmerte sich um sie. Das Haus war abgeschlossen, sie mussten sich auf der Straße oder im Garten hinter dem Haus aufhalten. Ruby holte Anna, und sie versteckten sich vor Gert in der Hecke und spuckten nach ihm, als er vorüberrannte, ohne sie zu entdecken. Im verschlossenen Haus war die Küche mit Essen voll gestellt, mit belegten Broten, die nach dem Gottesdienst in Dasses Haus hinübergebracht werden sollten. Ruby hatte geholfen, Rote Bete in gleich große Stäbchen zu schneiden, die dann in die Leberpastete gesteckt wurden, und sie hatte Krusten vom Roggenbrot geschnitten. Wenn die anderen dabei waren, schimpfte die Mutter nicht so viel, und Ruby wurde mit ihren Aufgaben problemlos fertig. Die Krusten durfte sie in einer Tüte mitnehmen, sie und Anna teilten sie, ohne Gert etwas davon abzugeben. Am
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