Das Erbstueck
hatten. Am Ende waren nur ihre Schuhe noch übrig. Dem Daumenlutscher Konrad wurde der Daumen abgeschnitten. Aber die schönste Geschichte war die von Ännchen im Mond.
»Lies von Ännchen, Papa.«
Der Vater blätterte.
»Das steht auf Seite 14.«
»Hier ist sie. Alles, was klein Ännchen sah, wollte sie besitzen gar...«
Ännchen erschrie sich allerlei Spielzeug, hatte es aber sofort wieder satt. Immer entdeckte sie etwas Neues und Spannendes. Eines Nachts spiegelte sich der Mond im Wasser – den wollte sie besitzen! Sie sprang in den Fluss, um ihn einzufangen.
»Ach! Da musste Ännchen sterben, in den Wellen ganz verderben.«
Sie wurde vom Mond gefangen und muss nun für immer dort oben sitzen.
»Ja! Im Monde sitzt sie nun, wo sie weint und klagt, schau nur auf, mein liebes Kind, wie sie dort verzagt. Und jetzt musst du schlafen, Ruby.«
»Scheint heute Abend der Mond?«
»Nur halb.«
»Die rechte oder die linke Hälfte?«
»Die linke, glaube ich.«
»Dann sieht man nur ihren Rücken und Nacken.«
»Gute Nacht, mein Schatz.«
»Denk an die Schleife, Papa.«
A uch an dem Tag, an dem Klein-Søren geholt wurde, stand sie am Dachfenster. Der Krankenwagen war schwarz und hatte gelbe Fenster, durch die man nicht hineinschauen konnte. Blegdamshospital stand darauf. Sie konnte das lesen, denn der Wagen blieb lange vor dem Haus stehen. Außerdem wusste sie, dass Leute mit ansteckenden Krankheiten dorthin gebracht wurden, auch Kinder. Søren hatte Schleim in der Lunge. Er hustete mit heulendem Geräusch, bis er sich erbrach. Sie hatte ihn seit zwei Wochen nicht mehr im Wagen fahren dürfen, und von der Mutter bekam sie niemals Geld für Eis, auch wenn sie Ib den ganzen Weg von Sundbyoster zum Fort und wieder zur ück fuhr, während die Mutter schlief.
Sie hatten ihn in eine Decke gewickelt. Dasse ging zusammengekr ümmt hinter dem Mann, der das Kind trug, her und hielt sich eine Hand ans Gesicht. Ruby hörte nicht, ob sie weinte, aber bestimmt weinte sie. Sie liebte Søren und küsste ihn oft, drückte ihn an sich und nannte ihn Mäuschen. Das sagte die Mutter auch zu Ib, wenn ihre Augen leuchteten und die Küche aufgeräumt war und die Gartentür offen stand und das Radio Vormittagskonzerte übertrug und die Mutter ein Kleid bügelte, weil sie und der Vater abends eingeladen waren.
Ruby stürzte nach unten und erzählte, dass Søren abgeholt worden war. Es machte Spaß, das zu erzählen, so traurig es auch war,
denn es betraf andere. Die Mutter lief auf die Straße, schaute lange dem Krankenwagen hinterher, rang die Hände und murmelte vor sich hin. Als sie wieder ins Haus kam, rief sie den Vater in der Arbeit an. Es dauerte lange, bis er an den Apparat kam. In der Zwischenzeit sprach sie mit jemand anderem und klang dabei höflich und gebildet. Dann brach sie plötzlich in hysterisches Weinen aus. Ruby begriff, dass der Vater jetzt da war. Sie konnte ihn vor sich sehen. Sie hatte ihn einige Male zur Arbeit begleitet. Er trug dann einen hässlichen Stoffkittel, um seine Kleider nicht zu verderben. Aber sie war noch nie in dem Büro gewesen, wo das Telefon stand. Die Mutter heulte über Ansteckung und Tod und über Dasse, die zweifellos zerschmettert war. Als sie aufgelegt hatte, sagte Ruby:
»Ich habe mich sicher angesteckt, Mutter.«
»Du? Nein, dich steckt bestimmt gar nichts an.«
Sie lief zu Anna Fuchs, um auch der alles zu erzählen. Sie und Anna waren gleich alt und unzertrennlich. Zusammen gingen sie zum Strand hinunter, wo sie husteten und husteten, bis sie umfielen und wie tot im Sand liegen blieben, so lange, bis sie einfach lachen mussten.
»Tote Kinder schrumpfen«, sagte Anna. »Wenn die Seele in den Himmel wandert, bleibt nur der kleine Leichnam übrig.«
»Ib wird bestimmt auch sterben. Und dann bin ich allein.«
»Wenn man von Schleim in der Lunge stirbt, hustet man so sehr, dass die Därme sich losreißen und aus dem Mund fliegen. Und dann spritzt das Blut überall hin, und dann stirbt man«, sagte Anna. »Der arme Ib, wenn ihm das passiert.«
Am Tag darauf ging Ruby zu Dasse hinüber, obwohl sie das eigentlich nicht durfte. Dasse saß ganz still auf einem Holzstuhl, sie hatte dem Licht des Fensters den Rücken gekehrt. Ihre Silhouette war so schwarz wie einer von den in Nikolas’ Tintenfass getunkten Knaben.
»Geh nach Hause. Deine Mutter hat Angst vor Ansteckung.«
»Muss er sterben? Haben seine Därme sich losgerissen?«
»Geh nach Hause.«
»Darf ich die Kätzchen
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