Das Erbstueck
Ende rannte er zum Strand hinunter, obwohl es zu kalt zum Baden war. Wenn sie Glück hatten, dann würde er trotzdem baden und Krämpfe bekommen und ertrinken, oder zum Hestehullet hinausschwimmen
und auf den Meeresgrund hinabgesaugt werden und verschwinden. Dasse würde es möglicherweise aufmuntern, die weite Reise nach Fünen zu unternehmen, und Gerts Mutter würde weinend herumlaufen, mit Lakritzschnecken unter dem Kinn, und nicht ertragen, dass Gäste von auswärts am Tag vor der Beerdigung ihres einzigen Sohnes im Nachbarhaus Schallplatten hörten und sich amüsierten.
Anna sagte, der Freitag sei ein unglaublich guter Tag, um sich begraben zu lassen. Dann begann bei ihr zu Hause der Sabbat, und sie dachten die ganze Zeit an göttliche Dinge. Nachher beim Essen, wenn die Kerzen brannten und sie ihre Gebete gesprochen hatten, wollte sie ein wenig über Søren erzählen, darüber, wie niedlich er gewesen war. Obwohl Søren ein Goj gewesen war und kein Nachkomme Abrahams und obwohl er niemals ein Abendgebet oder ein Tischgebet gesprochen oder die Tora gedeutet habe, sei er trotzdem ein Kind Gottes, das dessen Schutz im Himmel verdient hatte.
Ruby war zutiefst neidisch, wenn Anna solche Dinge sagte. Die Sabbatmahlzeit bei Anna war ein Fest, auf das die ganze Familie sich vorbereitete. Sie klopften die Teppiche aus und scheuerten die Fußböden, und die Eltern und die beiden Brüder und Anna badeten nacheinander in der Küche in einer riesigen Bütte. Die Mutter buk Challotbrote, die geflochten waren wie Zöpfe, und kochte Hühnersuppe mit großen Stücken koscheren Hühnerfleischs. Sie machten sich schön und deckten den Esstisch mit einer weißen Decke und weißen Kerzen für die Menora. Der Tisch sei eine Braut vor Gottes Antlitz, erklärte Anna. Auf diese Weise war jeder Freitag wie der Heilige Abend.
Aber es gab zum Glück keine Geschenke, denn dann hätte Ruby es nicht ertragen, mit Anna befreundet zu sein. Außerdem hatte der Sabbat auch seine langweiligen Seiten, unter anderem die, dass Anna bis zum Sonnenuntergang am Samstag nicht draußen herumlaufen und spielen durfte. Die Samstage wurden deshalb unangenehm lang. Anna winkte ihr durch das Fenster
zu, das war alles. Und die ganze Familie Fuchs saß im Haus und las aus dem Talmud, den Heiligen Schriften, und ruhte aus und plauderte und verzehrte Dinge, die schon am Vortag zubereitet worden waren. Sie durften nicht einmal Klopapier abreißen. Annas Vater, der einen langen roten Bart und einen Uhrmacherladen in der Østergade hatte, riss jeden Freitag, vor Sabbatbeginn, einen Stapel Papier zurecht. Das musste für den ganzen Samstag reichen. Einmal hatte Anna sich den Magen verdorben und alles Papier verbraucht. Und die Mutter hatte sie mit Handtüchern und Stoffservietten abgewischt, die danach weggeworfen werden mussten. Es war nicht zu begreifen, was das alles mit Gott und Abraham zu tun haben sollte. Die Sache mit dem koscheren Essen war ebenfalls unbegreiflich; dass die Tiere verbluten mussten, weil sonst das Fleisch nicht rein genug war. Annas Onkel Samuel arbeitete in einer jüdischen Schlachterei und brachte von dort Hühner und andere Tiere mit, die verblutet waren, und Annas Mutter kaufte in einem Laden in der Innenstadt koschere Lebensmittel ein. Als Ruby sich mit Anna angefreundet hatte, wurden Annas Eltern zu ihnen in den Garten geladen. Die Mutter servierte Kaffee und Eis aus dem Laden an der Ecke. Ruby war glücklich darüber, dass die Mutter sich so gut benahm, und alles war schön, bis die Eishörnchen auf den Tellern von Annas Eltern liegen blieben. Sie durften sie nicht essen. Die Eishörnchen waren nicht koscher, Eis und Kaffee waren das offenbar doch. Ruby hatte versucht, ihr eigenes knuspriges Eishörnchen ganz langsam zu zerkauen, um am Geschmack zu erkennen, warum es nicht heilig war. Die Mutter hatte das Gesicht verzogen und die Schüsseln ins Haus getragen. Und Annas Eltern waren nie wieder eingeladen worden.
Dasse war wie verwandelt, als sie aus der Kirche kam. Ihr Gesicht hatte sich aufgelöst. Es war geschwollen und rot, ihre Augen sahen aus wie rosafarbene, halb zugewachsene Wunden. Aber sie hatte ja noch immer die Kätzchen, mit denen konnte sie
sich ja wohl trösten. In vielerlei Hinsicht waren sie ja viel niedlicher als Søren. Und Windelwechseln war bei ihnen auch nicht nötig.
Die Mutter schimpfte, weil die Haarschleife aufgegangen war. Ehe sie die Brote hinübertrugen, mussten die Haare wieder mit Wasser gekämmt
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