Das Erbstueck
werden, dann wurde die Schleife mit einer Spange befestigt. Die Haut wurde dabei so straff gezogen, dass Ruby es bis in die Mundwinkel hinein spürte.
»Zappel nicht so. So geht es, wenn man Haare hat, die so krumm sind wie eine Wagendeichsel!«
Ihre Kopfhaut wurde feuerheiß. Die Schleife war bleischwer. Sie hätte gern heftig gehustet und die Mutter zur Hysterie getrieben, um zu sehen, was dann passierte, aber der Gedanke an die leckeren Brote hielt sie davon ab.
»Darf Anna mitkommen?«, fragte sie stattdessen. »Sie kann ja doch nichts essen, wo es nicht koscher ist.«
Die Mutter gab keine Antwort. Das bedeutete ja.
Dasses Zimmer waren dunkel und rochen nach altem Schlaf und staubigen Wollvorhängen und Zigarrenrauch, doch die Tische waren mit weißen Decken und weißen Kerzen und Porzellan gedeckt, wie zum Sabbat. Anna nahm feierlich Platz und sah Ruby vielsagend an. Sie waren es nicht gewöhnt, zusammen so vornehme Feste zu besuchen. Nicht einmal an Geburtstagen wurde das Porzellan hervorgeholt, es gab nur Küchengläser und weißes Alltagsgeschirr. Sonst hätte es nur Ärger gegeben, wenn etwas auf den Boden fiel, und das passierte ja jedes Mal.
»Die Tassen und die Untertassen hat sicher mein Vater bemalt« , flüsterte Ruby.
»Wir haben auch solche«, flüsterte Anna zurück. »Nur haben unsere Löcher am Rand.«
»Dann habt ihr Vollspitze. Das hier ist geriffelt, das ist billiger.«
Ib wanderte von Schoß zu Schoß, kam aber nie zu Dasse. Sie streckte die Arme nicht nach ihm aus, wie sie es bisher immer getan hatte. Ruby konnte gut verstehen, dass Dasse neidisch werden würde, wenn sie ihn auf den Arm nehmen und an ihm schnuppern könnte, denn er lebte, aber Søren nicht. Alle kleinen Kinder rochen genau gleich. Es war eine Mischung aus Waschpulver und Kacke und schweißnassen Nackenlöckchen. Ib lächelte und gurgelte, und die Mutter prahlte damit, was er alles schon sagen oder tun konnte, bis Dasse in Tränen ausbrach. Ruby sah, wie der Vater heimlich hart in Mutters Handgelenk kniff.
Gert wurde immer wieder von der Mutter mit den Lakritzschnecken angefasst. An den Haaren, auf der Wange, an den nackten Knien unter seiner kurzen Hose. Er rutschte bei jeder Berührung auf seinem Stuhl hin und her, schaute eilig zu Ruby und Anna hinüber und schnitt Grimassen. Ruby hätte gern diese Mutter gehabt, die das alles tat, oder Annas Mutter, auch wenn die einen Schnurrbart hatte. Sogar eine Mutter mit Schnurrbart und Papierstreifen mit Talmudzitaten in der Schürzentasche war absolut vorzuziehen. Sie stand auf.
»Gehen wir? Jetzt schon?«, flüsterte Anna.
Ruby zwängte sich an mehreren Kniepaaren vorbei und landete bei ihren Eltern. Sie versuchte, sich zwischen die beiden auf das Sofa zu drängen.
»Geh weg «, sagte die Mutter leise und hart. »Niemand will etwas von dir wissen.« Zu den anderen gewandt lachte sie laut und mit blankem Lippenstiftmund und sagte: »Sie ist ja so eifersüchtig auf Ib. Kinder!«
Ruby zwängte sich den Weg zurück, den sie gekommen war, ohne etwas Geriffeltes herunterzureißen, bis sie an allen Stühlen vorbei war, dann knickste sie vor Dasse, bedankte sich für das Essen, rannte aus dem Haus und hoffte, dass Anna ihr folgte. Was Anna tat. Sie blieben für einen Moment im Vorgarten stehen,
ehe Ruby den Weg hinters Haus zeigte, durch den Flur und zu dem Korb, in dem die Katzenjungen lagen. Die Katzenmutter war nicht da. Die Kleinen bildeten einen weichen Fellklumpen, sie piepsten und krabbelten aufeinander herum. Ruby und Anna nahmen sich jede eins.
»Sie haben Augen! Sie machen sie auf! Sie sind auch viel größer geworden!«, sagte Ruby und berührte das Katzenköpfchen mit dem Mund. Es war so groß wie ein Apfel. Das Maul roch gut. Es war süß und rosa.
Dann stand die Katzenmutter vor ihnen, sie machte einen krummen Rücken und fauchte. Sie sprang Ruby ins Gesicht und riss mit den Vorderpfoten das Junge an sich. Anna ließ ihres in den Korb fallen. Rückwärts wichen sie zur Tür zurück.
»Die war böse«, flüsterte Anna.
»Nein, die hatte Angst. Sie kennt dich doch nicht. Deshalb. Sie hat gedacht, du wolltest den Kleinen was tun.«
Am nächsten Tag waren alle Kätzchen ertrunken. Das erfuhr Ruby, als sie sie ansehen wollte, nachdem die Trauergäste abgereist waren. Sie war fest entschlossen, ganz lange mit der Katzenmutter zu schmusen, um ihr klarzumachen, dass keine Fremden auftauchen würden.
Der Korb war leer, und auch die Katzenmutter war nicht zu
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