Das Erbstueck
Morgen wie neu. Sie hätte schon längst ins Bett gehört. Der Lärm dort unten trieb die Zeit an, machte sie unwichtig. Sie warfen mit Gegenständen, das hörte sie, aber was sie riefen, konnte sie nicht verstehen. Die Stimmen verschwammen zu einem gleichmäßigen Brei, einer Welle, die sich erhob und am Sand leckte, die in sich zusammenfiel und zur ückglitt, die sich abermals aufbaute und den Sand an der Stelle traf, wo das Wasser der vorigen noch nicht richtig durchgesickert war.
Sie holte den Hocker. Der Vater wusste nichts von diesem Hocker. Er ließ sie hier oben in Ruhe, auch wenn unten nicht geschrien wurde. Aber Ruby wusste, dass Sechsjährige nicht allein auf Hockern vor Dachfenstern stehen dürfen. Sie kletterte aus dem Fenster und bis aufs Dach. Jemand schrie im Nachbarhaus, das war Dasse. Ruby legte sich auf den Bauch und streckte die Hand nach der Schleife aus, bekam sie zu fassen, zog sich durch das Fenster zurück und schrammte sich das Knie auf. Darüber freute sie sich, fast mehr als über die Rettung der Schleife, denn die Wunde saß genau an der Stelle, in die sie sich vorhin gebissen hatte, und der Vater konnte es doch nicht ertragen, wenn ihre Knie Bissspuren aufwiesen. Außerdem hatte Dasse sie ja gesehen. Sicher schrie sie deshalb. Sie setzte sich still auf den Boden und wartete und fing an zu zählen. Sie kam nur bis 10, obwohl sie es sonst fast immer bis halbhundert schaffte.
»Ruby! Komm nach unten! AUGENBLICKLICH!«
Die Stimme der Mutter kam vom Fuß der Bodentreppe her. Die Wörter schwallten über die Stufen, wie Trompetenstöße. Danach, von der Treppe abgewandt: »Warum stehst du nur herum? Jetzt lauf schon in den Garten, Mogens, und sieh nach, ob dieses verdammte Gör runtergefallen ist!«
Sie blieb ganz still da sitzen und leckte sich Blut von der Wunde. Sie hörte unten in der Küche Dasses Stimme. Die war laut und
schrill, wie das bei Frauen eben ist, wenn sie wütend sind oder Angst haben. Dasse hatte frisch geborene Katzenjunge und immer eine Dose voll Plätzchen. Ruby beschloss aber trotzdem, sie nie mehr zu besuchen, weil sie petzte. Auch nicht, um mit Klein-Søren im Kinderwagen loszufahren und dadurch fünfzehn Öre für ein Eis zu verdienen.
Dann kam der Vater nach oben, fand sie im Halbdunkel und nahm sie auf den Arm. Er war schweißnass, aber nicht, weil er in den Garten und dann wieder ins Haus gerannt war. Davon wurde man nicht schweißnass. Seine Brille war beschlagen.
»Was hast du da draußen gemacht?«
»Die Schleife geholt, Papa.«
»Deine Mutter ...«
»Ich hab die Schleife geholt!«
Das wiederholte sie unten, bei Mutter und Dasse, die in der Küche standen. Die Mutter verpasste ihr trotzdem eine Ohrfeige. Sie hätte die Schleife also auch mit dem Wind weiterziehen lassen können. Normalerweise schlug die Mutter nicht, wenn Ruby in Sicherheit auf Vaters Arm saß. Die Brille des Vaters rutschte herunter, als Rubys Kopf gegen seinen geschleudert wurde.
»Jetzt reicht es, Malie«, sagte er und setzte die Brille wieder auf. »Aber danke, Dasse, dass du uns Bescheid gesagt hast. Und jetzt muss die junge Dame ins Bett.«
Die Haare der Mutter waren durcheinander geraten. Ihre Wangen glänzten, die Augen waren schwarz und brannten. Der Nagellack war an den Rändern abgeblättert. Sie trug ein gelbes Kleid mit einer kleinen Stoffblume, die an einer Schulter festgen äht war. Dasse weinte und hatte der Mutter eine Hand auf den Arm gelegt, auf den, der zugeschlagen hatte.
»Papa soll mich ins Bett bringen«, sagte Ruby. »Nicht du. Und du darfst auch nachher nicht reinkommen.«
Sie gingen, ehe die Mutter antworten konnte. Ruby wurde durch die Zimmer getragen. Niemand tröstete Ib. Er weinte jämmerlich
und piepsend, mit viel Luft dazwischen, so, wie er sonst vor dem Einschlafen weinte.
»Schreit ihr heute Abend noch mehr, du und Mutter, Papa?!«
Er gab keine Antwort.
»Liest du mir was vor?«
»Ja, gern. Ich hab Zeit genug, Herzchen.«
Er machte sich an ihrem Knie zu schaffen.
»Du darfst die Schleife um die Flasche nicht vergessen, Papa.«
»Werde ich auch nicht. Was soll ich lesen?«
»Den Struwwelpeter.«
»Ich dachte, den magst du nicht?«
»Doch. Die Kinder sind ja noch böser als ich.«
Der große Nikolas tunkte die Knaben in sein Tintenfass, weil die einen Mohr verspottet hatten, und danach waren sie schwärzer als jemals irgendein Mohr. Paulinchen verbrannte, weil sie mit Streichhölzern spielte, obwohl die Katzen sie immer wieder gewarnt
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