Das Erbstueck
nicht sehen?«
»Jetzt höre ich Egil.«
Ruby rannte zum Fenster und sah, wie Dasses Mann sein Fahrrad in den Ständer stellte und durch das Tor ging. Er ging langsam, trat dicht an Dasse heran, legte ihr die Hände auf die Schultern und sagte: »Es ist vorbei. Jetzt hat er Ruhe gefunden.«
Ruby lief durch die Hecke nach Hause und erzählte nichts davon, dass Søren wieder gesund geworden war und sich ausruhte. Die Mutter merkte fast nicht, dass sie da war. Es waren Ferien. Sie kam sich vor wie im Schrebergarten bei Tante Oda und Onkel Dreas. Keine plötzlichen Wutanfälle. Dann passierte alles auf einmal. Das Telefon klingelte, die Mutter fing an zu schluchzen und sagte, armer Søren, arme Dasse, mein Gott, mein Gott, das ist ja so entsetzlich, das unschuldige kleine Kind, danke für den Anruf, Egil, ja, natürlich helfen wir bei der Unterbringung.
Er war gestorben, während er sich ausruhte. Ruby hustete. Die Mutter legte auf und drehte sich langsam zu ihr um: »Hast du gehustet?«
»Jetzt nicht mehr.«
»Wenn du Ib ansteckst ... du WARST da! Du WARST da! Die verdammten Katzen! KOMM HER, du Drecksdeern!«
Sie wurde ins Badezimmer gezerrt, wo die Mutter ihr Quillaia-Absud in den Hals schüttete, das Mittel, mit dem sie auch die Teppiche wusch. Rubys Kleid wurde vorn feucht und dreckig davon.
»Schlucken. Schlucken. Jetzt SCHLUCK ENDLICH!«
Sie erbrach sich, über sich und über die Mutter und über die vielen in Reih und Glied angebrachten Fliesen. Die Mutter schlug ihr ins Gesicht, wieder und wieder, auf beiden Seiten. Aber sie hörte ebenso plötzlich damit auf, wie ihr die Idee mit dem Quillaia-Absud gekommen war. Sie sank auf die Knie,
schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte: »O Gott, was für ein Leben, was für ein Leben...«
Ruby dachte: Warum sagt sie das? Mir ist doch schlecht geworden!
Sie lehnte sich an die Mutter, ihr schwindelte, sie waren jetzt gleich groß. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten und den Walzer Nr. 7 gehört, aber sie schmiegte ihre Wange an die der Mutter und flüsterte: »Mutter, nicht weinen, nicht weinen, Mutter, das geht schon gut, nicht weinen, Mutter. Ich erbreche mich nicht mehr, ich hab ganz viel runtergeschluckt, ich bin jetzt gesund. Mutter...«
Sie zog der Mutter die Hände vom Gesicht, einen Finger nach dem anderen, und entblößte Augen, Nase und Mund. Aus allen Löchern strömte blanke Flüssigkeit.
»Mein Leben«, flüsterte die Mutter, ohne die Augen zu öffnen, die Tränen sickerten durch ihre Wimpern. »Ach, wenn ich damals doch nur ein wenig vorsichtiger gewesen wäre... es hat meine Figur ruiniert, meine Karriere, meine Chancen. Eine verheiratete Frau darf nicht Frau sein. Ich wäre jetzt berühmt, statt in einem Winkel auf Amager zu verkommen, zwischen lauter Toten.«
»Aber Mutter, wir sind doch nicht tot. Und Søren war noch ganz klein. Er konnte ja noch nicht mal sprechen. Nicht mehr weinen, Mutter.«
Endlich öffnete sie die Augen und schniefte auf die Weise, die Ruby als abschließendes, vernünftiges Schniefen kannte.
»Wie siehst du denn überhaupt aus, Herrgott, zieh dich sofort aus. Und bist du sicher, dass du dich nicht mehr erbrechen musst?«
»Ja, Mutter.«
Zur Beerdigung füllten sich beide Häuser mit fremden Menschen, mit Koffern und Taschen und Blumen und Dosen mit Kuchen und Brot. Die ganze Nachbarschaft stellte Matratzen zur
Verfügung. Die Mutter sprach nicht mehr von Ansteckung. Ruby sollte auf dem Dachboden schlafen. Der Vater holte ein altes Sofa aus dem Keller, sie freute sich. Bis sie erfuhr, dass auch ein Junge aus Fünen, der älter war als sie, dort oben übernachten sollte, auf einer Matratze vor dem Sofa. Der Junge hieß Gert. Er lag unter seinen Decken und bohrte in der Nase, blies sich Rotz zwischen den Fingern durch und danach reinigte er seine Zehen und beschrieb detailliert, wie groß die Stücke waren, die er dazwischen fand. Und dass sie nach Käse schmeckten. Am Ende kaute er lange auf seinen Nägeln herum und spuckte weiße Nagelhalbmonde auf die Bodenbretter. Er hätte bei Dasse schlafen sollen, da hätte er sich hoffentlich angesteckt.
Gerts Mutter sollte unten schlafen. Sie trug ein schwarzes Trauerkleid, mit zwei Knöpfen unter dem Kinn. Die sahen aus wie Lakritzschnecken mit einer blassblauen Zuckerkugel in der Mitte. Sie sagte, sie sei froh darüber, nicht bei Dasse wohnen zu müssen, denn sie wollte sich doch auch ein wenig amüsieren, wo sie so weit gereist waren.
Ruby hörte
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