Das Erbstueck
Essen fertig war und sie essen und dann zu Anna laufen durfte. Weg vom bösen Atem und dem scharfen Lachen der Mutter und den vielen Gemeinheiten, die sie dem Vater an den Kopf warf, darüber, wie langweilig er doch sei, und wie wenig er verdiene, und dass seine arme Frau sich nicht einmal mit einem Nerz vor der Kälte schützen könne.
Er musste lernen, auf dem Klavier modern zu spielen, und Ruby glaubte, dass er das machte, um die Mutter zu Hause zu halten. Er spielte für die Gäste modern. Rasche Musik, zu der getanzt wurde. Die Absätze der Damen bohrten Löcher in den Wohnzimmerboden, doch die Mutter ließ sich davon nicht affizieren. Er spielte auch, wenn die Mutter sang, das hatte er noch nie getan. Es war schön, im Bett zu liegen und diesen Liedern zu lauschen:
Er liebte ihre Hände
und ihre Jungfernbrust,
und ihren weichen Nacken,
den traf sein heißer Kuss.
Er liebte ihre Stimme,
mit ihrer Silberglut,
noch mehr die kleinen Füße,
die waren schwarz beschuht ...
Alle Lieder hatten mindestens drei Strophen, manche auch fünf oder sechs, und die Mutter kannte sie alle auswendig.
Zwei muss man sein, um das Leben zu meistern,
zwei, um sich für das Glück zu begeistern,
zwei, wenn es stürmt und zwei auch im Stillen,
zwei für das Können und zwei für den Willen ...
Sie sang von der Weißen Möwe und dem Mädel aus Sachsen, aber das Lied vom Wald wollte der Vater nicht spielen. Und
wenn die Gäste nach dem »Blauen« schrien, wehrte die Mutter immer ab:
»Nein. Dann heul ich vor Kummer noch los!«
Ruby befreite beide Ohren vom Kissen und horchte auf jedes Wort. Sie wusste nicht, was der »Blaue« war, aber den Wald sang die Mutter oft im Haus, wenn der Vater zur Arbeit war.
Tutt und Käse-Erik waren bei diesen Festen fast immer dabei. Erik besorgte den Martini. Sie mischten Martini und Sodawasser und nannten es Jus und hackten Eis vom Klotz im Eisschrank und legten die Splitter ins Glas.
In den Zeiten, in denen die Mutter nicht putzte, sondern nur Menschen sehen wollte, mussten sie immer beim Milchmann, der einmal in der Woche an die Tür kam, einen zusätzlichen Eisblock kaufen.
»Fünfzehn Öre hier und fünfzehn Öre da, verdammt«, sagte der Vater leise, wenn der Eisschrank so viel Eis enthielt, dass kein Platz für Lebensmittel mehr war. Er sagte es nur, wenn Ruby es hörte, nicht zur Mutter. Und ihr wäre es ja doch egal gewesen. Nicht einmal für Ib hatte sie Zeit. Er wuchs und lernte, »nein nein« zu sagen. Sie ließ ihn auf dem Boden rutschen, und da konnte er dann sitzen und schreien, bis ihm der Rotz über das Gesicht strömte. Ruby musste ihn trösten und ihm vielleicht eine Möhre in die Hand drücken. Er konnte mit seinen neuen Zähnchen noch nicht kauen. Aber eines Tages brach er ein Stück davon ab, das ihm im Hals stecken blieb. Sein Gesicht lief blau an. Die Mutter war einkaufen gegangen. Ruby hielt ihn an den Füßen hoch, bis das Möhrenstück auf den Boden fiel. Er schrie so laut, wie sie noch nie ein Kind hatte schreien hören. Sie las ihm »Der gestiefelte Kater« vor und kitzelte ihn im Nacken und bedeckte ihn mit Küssen. Als die Mutter nach Hause kam, hatte er sich wieder beruhigt. Er konnte ja zum Glück nichts erzählen. Die Möhre, die um ein Haar das Leben von Rubys einzigem Bruder auf dem Gewissen gehabt hätte, wollte Ruby danach einfach nicht essen. Sie versteckte sie im Bett und brachte sie dann in
den Garten zu den Kaninchen. Sie ließ sie in den Käfig fallen, ohne hinzusehen. Das tat sie nie. Anna auch nicht. Die Kaninchen waren Lebensmittel. Das war eine grauenhafte Vorstellung, aber sie schmeckten gut, und deshalb wollte Ruby sie nicht lieb haben. Das konnte Anna verstehen.
»Die müssen jedenfalls nicht verbluten«, sagte Ruby. »Oder ertrinken.«
»Wie sterben die denn dann?«, fragte Anna.
»Sie werden mit der stumpfen Seite einer Axt erschlagen. Bis es wehtut, sind sie schon längst tot.«
Dauernd kamen neue Kaninchenjunge. Der Vater tauschte einige gegen Buttermarken und Zuckermarken oder Speckstücke. Es gab auch Pferdefleisch, aber das wollte die Mutter nicht, da gehe die Grenze, sagte sie. Eines Tages tauschte sie zwei Kaninchen gegen Sodawasser und einen Lampion für den Garten, während der Vater auf der Arbeit war, denn abends sollte ein Fest stattfinden. Als der Vater nach Hause kam, lief Ruby ganz schnell mit Ib ins Schlafzimmer.
»Was hast du gemacht, hast du gesagt?« Seine Stimme klang außergewöhnlich laut. Doch wenn der Vater
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