Das Erbstueck
genug Tabak zu haben. Er kaufte sich eine Pfeife und saß auf der Bank und rauchte Kippen und trank Bier, während Ruby zum Zeitvertreib die Tomatenblätter mit Wasser wusch. Sie sehnte sich nach Anna. Und nach dem Vater. Eines Sonntags durfte sie mit Tante Oda nach Hause fahren. Auf den Straßen wimmelte es nur so von Deutschen. Ruby fing an zu weinen, sowie sie den ersten entdeckte.
»An die gewöhnst du dich schon noch«, sagte Tante Oda. »Die sind nicht gefährlich.«
Die sollten nicht gefährlich sein? Wie war das zu verstehen? Auf der anderen Seite von Langebro wurden sie weniger, doch als sie sich dem Haus näherten, nahm ihre Anzahl wieder zu.
»Sie haben sich das Fort geholt«, sagte Tante Oda. »Deshalb.«
»Geholt? Haben sie es woanders hingesetzt?«
»Sie sind dort eingezogen!«
»Heute?«
»Nein, Ruby. Aber wein nicht. Red einfach nicht mit ihnen. Kindern tun sie nichts.«
Trotz dieser beruhigenden Worte war Ruby in Tränen aufgel öst, als sie ins Haus stürzte, es leer vorfand, in den Garten rannte und sich in die Arme der Mutter warf. Die schob sie rasch von sich weg.
»Bist du hingefallen? Du bist ja wirklich ungeschickt!«
»Die Deutschen holen mich, Mutter. Das Fort haben sie sich schon geholt.«
»Unsinn. Setz dich, wisch dir das Gesicht ab und hör auf mit dem Geschrei.«
Anna war zu Hause. Ruby wagte sich kaum auf die Straße, aber sie musste doch zu Anna.
»Ich war im Fort«, sagte die. »Schon ganz oft. Wollen wir jetzt hingehen? Sie frühstücken jeden Tag in der Fortschenke, und ich bekomme Bonbons. Sie nennen mich Süße. Das heißt, dass ich niedlich bin.«
»Ich weiß, was Süße bedeutet. Und wenn du dich hintraust, dann trau ich mich auch.«
Aber bis zur Fortschenke kamen sie dann doch nicht. Sie begegneten ihnen schon auf dem Amager Strandvei, auf dem Weg zur etwas weiter gelegenen Badeanstalt. Mindestens fünfzig deutsche Soldaten, die zu drei und drei nebeneinander marschierten, in dunkelblauen Badehosen und Helmen, und die dabei dreistimmig aus voller Kehle sangen. »Denn wir fahren, denn wir fahren, denn wir fahren ... gegen Enge-land. Engeland!«
Rubys Augen füllten sich mit Tränen. Aber nicht vor Angst. Sie hatte noch nie so schönen Gesang gehört, er war noch schöner als die Platten in der Matratze der Mutter. Die Deutschen lachten und lächelten und zwinkerten Ruby und Anna zu und stimmten ein neues Lied an: »Hei-li, hei-lo, hei-lo - HEILI! HEILO! HEILO!« Sie antworteten einander quer durch die Reihen mit HEILI! HEILO!, und bei jedem hei hoben sie die Füße und setzten sie bei li wieder hin.
Ruby klatschte in die Hände. Anna stand ganz ruhig und ein wenig überlegen neben ihr. Als habe sie diese Lieder schon tausendmal gehört.
»Die wollen in die Badeanstalt«, sagte sie. »Und wenn sie ins Wasser gehen, nehmen sie ihn ab.«
»Wen denn?«, fragte Ruby.
»Den Helm. Im vorigen Krieg hatten sie Helme mit einem Stachel ganz oben, die nannten sie Pickelhaube.«
Am Strand baden! Die Deutschen wollten auch im Wasser waten und spritzen und Sand in die Badehosen bekommen und mit der Sonne im Nacken in Richtung Schweden schwimmen. Und
sie sangen über Engeland und hatten fröhliche Gesichter und aßen in der Fortschenke und schenkten Anna Süßigkeiten.
»Ich will nicht in den Schrebergarten zurück«, sagte Ruby und lachte. »Die sind doch nicht gefährlich.«
»Sie schießen jeden Sonntagmorgen um zehn im Fort«, sagte Anna. »Heute haben wir sie auch gehört. Sie erschießen Soldaten, die nicht mehr kämpfen wollen.«
»Und dann sterben sie?«
»Ja. Das sagt mein Vater.«
»Warum dürfen die nicht einfach nach Hause fahren, wenn sie nicht kämpfen wollen?«
»Ich weiß nicht.«
»Uns erschießen sie nicht«, sagte Ruby.
»Gefährlich sind die Engländer«, erklärte Anna. »Wenn sie versuchen, die Deutschen vom Flugzeug aus zu treffen. Dann wird Alarm gegeben, und wir müssen mitten in der Nacht in den Keller laufen. Mein Vater hat den richtig schön eingerichtet, mit Stühlen und Sofas und viel zu essen.«
Der Gartentisch war voll besetzt, als Ruby nach Hause kam. Tutt und Käse-Erik waren zu Besuch, und Onkel Frode. Onkel Frodes Freundin Anne-Gine war auch dabei, aber Mutter konnte sie nicht leiden. Sie tranken beide. Onkel Frode war immer knallrot im Gesicht, die Mutter bezeichnete sie als Bettelkommunisten. Bubbi, der große Bruder von Birte und Lizzi, hatte Ruby den Satz beigebracht: Bei Onkel Frodes sitzt der Kopf da, wo bei anderen der
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