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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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das Tor gelassen, und der Soldat marschierte schnurstracks auf eine lange Kaserne zu.
    »Werden wir erschossen?«, flüsterte Ruby. Eigentlich musste sie aufs Klo.
    »Ich weiß nicht, was aus uns wird«, flüsterte der Vater zurück.
    »Warum musste ich mitkommen?«
    »Ich dachte, dann erfahre ich, was er vorhat. Wenn ich erschossen waren soll, was soll ich dann mit einem Handwagen und einer Tochter?«
    Ruby konnte sich nicht vorstellen, dass der Vater etwas verbrochen haben könnte. Onkel Frode dagegen druckte in einem Keller geheime Zeitungen. Darüber hatten die Erwachsenen auf einem Fest einmal leise gesprochen. Der Soldat öffnete eine Tür für sie und redete rasch auf Deutsch auf den Vater ein. Der Vater nickte und sagte: »Danke, vielen Dank.«

    Der Gestank schlug ihnen entgegen, eine Mischung aus Pisse und gekochtem Kohl. Er stammte von dem Stroh, das den Boden und die vielen Reihen von Etagenbetten bedeckte.
    »Wir bekommen das Stroh«, sagte der Vater leise. »Weil sie gehört haben, dass wir Kaninchen halten. Hilf mir, Ruby.«
    Sie musste es anfassen. Das würde Ohrfeigen und Kopfwäsche setzen, wenn die Mutter davon erfuhr. Der Soldat stand an der Tür und hielt sie offen, während sie den Wagen füllte. Aus der Ferne hörten sie eine Gruppe von Soldaten, die ein Metallgitter aufstellten. Sie sangen mehrstimmig aus voller Kehle:
    Schwarzbraun ist die Haselnuss,
schwarzbraun bin auch ich,
JA, BIN AUCH ICH!
Schwarzbraun soll mein Mädel sein,
geradeso wie ICH!
    Der Wagen war voll, der Vater bedankte sich noch einmal. Der Torwächter ließ sie hinaus, der Soldat sagte Heil Hitler, was diesmal »Auf Wiedersehen« bedeutete, und dann waren sie frei.
    Sie liefen nach Hause. Die Mutter kam angestürzt und fiel dem Vater um den Hals, ohne Ruby, die in ebenso großer Lebensgefahr geschwebt hatte, auch nur anzusehen. Ruby wusste, dass sie nie wieder Kohl essen würde, und wenn er das Einzige auf dem Tisch wäre. Der Vater machte hinten im Garten ein riesiges Feuer aus dem Stroh, und alle fanden es mutig, dass er es am selben Tag noch verbrannte. Die Nachbarn strömten herbei, und Dasse brachte Sommersaft aus Rhabarber und Johannisbeeren mit gehacktem Eis in der Kanne. Der Vater lobte Ruby und sagte, sie habe sich wie ein Berg der Gemütsruhe verhalten, doch dann bemerkte die Mutter, wie schrecklich sie stank. Und sofort ging es ins Badezimmer.

A bgesehen von der eintönigen Kost und den umgenähten Kleidern mit den sichtbaren Stichen und den zu engen Ärmeln, weil die Mutter eigentlich nicht nähen konnte, gewöhnte Ruby sich an den Krieg und fand ihn gar nicht schlecht. Es gefiel ihr auch, allein zu Hause zu sein, wenn die Mutter den Vater zu einem Ausflug ins Kino überreden konnte. Obwohl dann Dasse auf sie aufpassen sollte, saß die doch nur in ihrem eigenen Haus. Ruby sollte im Fenster zum Garten eine bestimmte Lampe einschalten, wenn etwas nicht stimmte, aber so weit kam es nie. Ib schlief. Sie selber hielt sich wach, bis die Eltern gegangen waren. Die Mutter hatte dreimal Tag der Rache und fünfmal Sommerfreuden gesehen, bekam es aber niemals über, sich auszumalen, mit welcher Leichtigkeit sie die weibliche Hauptrolle gespielt hätte. Und nach dem Film trafen sie Menschen und waren ein wenig zivilisiert, sagte sie. Es half nur selten, dass der Vater sie erinnerte, wie früh er morgens zur Arbeit musste. Wenn er nicht mitkam, ging sie allein, und dann konnte sie bis zum Morgengrauen ausbleiben.
    Ruby freute sich immer, wenn der Vater mitging. Sie fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit. Sie zündete in sicherer Entfernung von Dasses Beobachtungsfenster Kerzen an. Sie hängte sich Schmuckstücke aus der Frisierkommode ihrer Mutter um den Hals und sang dazu über die junge Dirne und steckte einen feuchten Zeigefinger in die Zuckerdose und leckte ihn ab.

    Wenn die gelbe Laterne verbleichet
und wenn die Nacht endlich flieht,
dann sieht man die Schar, die entweichet
nachdem sie so hart sich gemüht.
Aber vielleicht Willst du wissen,
warum dieses Mädchen einst fiel,
warum sie verschwand in dem Abgrund,
und glaubte, es sei nur ein Spiiiiiel ...
    Sie spielte Klavier, schlug aufs Geratewohl in die Tasten und stellte sich vor, es sei eine richtige Melodie. Nachher wischte sie sorgfältig die klebrigen Zuckerspuren ab und legte die Schmuckstücke genau an ihre alten Stellen zurück. So war es, erwachsen zu sein, und selber über Abend und Nacht zu bestimmen, sich fein zu machen und Feste zu besuchen,

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