Das Erbstueck
Jus zu trinken. Nur das mit dem Streiten, das würde sie später vermeiden. Und niemals würde sie Sellerie braten und ihn hilflosen Kindern aufzwingen.
Aber der Krieg war trotz allem nicht so schlecht. Bis Anna eines Tages sagte, als sie am Strand unterwegs waren und in den Tangdolden nach Bernstein suchten:
»Die Deutschen holen Juden. Das hat mein Vater gesagt. Früher hat er das nie getan.«
»Er hat das früher nie gesagt?«
»Nein. Er wollte uns keine Angst einjagen. Aber ich habe es in der Schule gehört.«
»Ich habe das nicht gehört«, sagte Ruby. »Sind das Juden, die etwas gestohlen haben? Oder Zeitungen gedruckt?«
»Sie haben gar nichts getan. Aber Hitler kann sie nicht leiden. Er fängt sie ein und steckt sie in Käfige.«
»In Dänemark?«
»Ich weiß nicht. Aber meine Mutter weint jede Nacht, und mein Vater liest über die Flucht aus Ägypten vor.«
An einem Donnerstag fehlten in der Klasse vier Mädchen. Miriam, Judith, Clara. Und Anna. Lehrerin Olsen trug ihr braunes Kleid, beugte sich über das Klassenbuch und machte Anmerkungen. Es waren die vier kleinen Jüdinnen. Wenn es ein Dienstag gewesen wäre, dann hätte keine reagiert, denn dann besuchten sie den Hebräischunterricht in der jüdischen Schule. Aber jetzt war Donnerstag. Und es fehlte sonst niemand. Als alle aufgerufen worden waren, blieb die Lehrerin lange sitzen und starrte in ihr Buch. Leise sagte sie, fast wie an sich selber gerichtet: »Herrgott.«
Das sagte sie sonst nie. Ruby brach in Tränen aus. Sie und Anna gingen immer zusammen zur Schule, nur dienstags nicht. Sie hatte geglaubt, Anna sei krank, als die sie nicht wie sonst am Gartentor erwartet hatte.
»Aber Ruby«, sagte Lehrerin Olsen.
»Sie stecken sie in Käfige und niemand weiß, warum!«, rief Ruby. Die ganze Klasse starrte sie an. Frau Olsen rang die Hände und brach ebenfalls in Tränen aus.
»Wenn du willst, Ruby, dann kannst du gern nach Hause gehen. Ich weiß ja, dass Anna deine beste Freundin war ... und wenn sonst noch eine gehen will ... und sich um sie kümmern ... oder, ich glaube, wir sagen heute den Unterricht ganz ab. Wir sehen uns morgen wieder. Dann wissen wir vielleicht mehr.«
War. Deine beste Freundin. Ruby rannte den ganzen Weg zu Annas Haus. Die Tür war abgeschlossen. Sie stürzte in den Garten, zur Küchentür. Die war ebenfalls abgeschlossen. Sie presste ihr Gesicht gegen das Wohnzimmerfenster und klopfte daran. Und dann sah sie es. Die siebenarmige Menora war von der Anrichte verschwunden. Und auch der Talmud des Vaters, der immer daneben gelegen hatte.
Die Mutter wusste Bescheid. Sie saß im Nachthemd im Badezimmer und schnitt sich die Zehennägel, als Ruby schreiend und weinend hereinkam.
»Anna ist weg! Die Deutschen haben sie geholt! Ach, Mutter!«
»Pst! Du weckst den Kleinen. Sicher sind sie heute Nacht nach Schweden gefahren«, sagte die Mutter, ohne den Blick zu heben. »Das machen die jetzt.«
»Aber in Schweden ist doch kein Krieg? Wie können die Deutschen sie in Schweden in den Käfig stecken? Mutter! Sie sind TOT!«
»Ganz ruhig, schrei mich nicht an. Sie sind einfach geflohen. Vor den Deutschen.«
»Geflohen? Geflohen, Mutter?«
»Ja. Nach Schweden. Sie kommen sicher zurück, wenn der Krieg vorüber ist. Denk nicht mehr daran. Anna geht es sicher gut.«
»Das sagst du bloß, weil sie das Eishörnchen nicht gegessen haben. Du kannst sie nicht leiden.«
Die Mutter starrte sie an: »Das Eishörnchen?«
Sie rannte auf den Dachboden, setzte sich in eine Ecke und zog die Knie zum Gesicht hoch. Sie mochte nicht mehr weinen. Wie waren sie denn nach Schweden gekommen, wenn im Wasser so viele Bomben lagen? Und was war mit ihren Sachen, den Kleidern, dem Haus?
Sie blieb den ganzen Tag auf dem Dachboden und ging nicht einmal zum Essen oder aufs Klo nach unten. Die Mutter rief sie auch nicht. Aber der Vater stieg die Treppe hoch und nahm sie auf den Schoß, als er aus der Porzellanfabrik zurückkam.
»Viele Juden gehen nach Schweden. Hier können sie nicht bleiben, das ist gefährlich. Gute Dänen bringen sie mit dem Boot hinüber.«
»Aber die Bomben, Papa?«
»Sie haben besondere Boote, die die Bomben entdecken, und dann können sie ihnen ausweichen. Fuchs’, Kuznetsovs und Chwirkowksys sind alle letzte Nacht gefahren.«
»Bist du sicher, dass die Deutschen sie nicht geholt haben?«
»Ganz sicher, mein Schatz.«
»Warum kann Hitler Juden nicht leiden? Annas Vater macht doch keine Zeitungen, und er stiehlt auch
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