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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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laut wurde, dann wurde die Mutter noch lauter. Und am Ende schrie sie: »Geh auf deinem kostbaren Klavier üben, du! Und nicht Chopin, wenn ich BITTEN darf!«

    Ruby konnte sich später auch daran erinnern, wie leicht sie sich anfangs an alles gewöhnt hatte, was passierte, auch wenn alles von einem Extrem zum anderen jagte. Die Soldaten auf den Stra ßen machten ihr keine Angst mehr, man flüsterte einfach durch die Zähne Schweinehunde, wenn sie den Rücken gekehrt hatten, und hörte sich ihren mehrstimmigen Marschgesang an. Man bedauerte die mageren deutschen Kinder hinter dem Zaun, die in Dänemark aufgepäppelt werden sollten. Auch ihre Mütter waren dabei, blasse Frauen mit langen Zöpfen. Zuerst wohnten
sie im Fort, bis Oberst Sturm auf die Idee kam, die Schule zu übernehmen. Ruby liebte die Schule. Die war nagelneu, und die Lehrer waren lieb und geduldig, nur nicht den Jungen gegen über, aber zum Glück hatten die ihre eigene Klasse, wo sie sich vermutlich von Anfang bis Ende jeder einzelnen Schulstunde in der Nase bohrten.
    Ruby und Anna waren besonders gut in Handarbeit und Dänisch, und Ruby ging jeden Tag mit Freude und einer strammen Haarschleife zum Unterricht. Die Schule zu verlieren und mit der ganzen Klasse in den düsteren Keller unter der Kirche zu übersiedeln, das passierte ihr einfach. So war es. Die Deutschen bestimmten. Aber dann gab es mittags vielleicht einen leckeren Kaninchenbraten, und die Mutter legte sich danach hin, weil ihr vom Fest des Vorabends noch der Kopf wehtat. Ruby konnte in Ruhe ihre Aufgaben machen, zu denen niemand sie ermahnen musste, und sie dachte an die schönen Dinge, die passieren könnten, wozu sogar Fliegeralarm gehörte. Im Keller blieb die Mutter friedlich. Sie konnte lächeln und lachen und sich dicht neben den Vater setzen und aus der »Nordischen Schnittmusterzeitschrift« über die neueste Mode vorlesen. Und als einmal während eines Festes Fliegeralarm gegeben worden war, versammelten sich dort unten fünfzehn Menschen, und Ruby durfte auf dem Schoß eines fremden Mannes sitzen und Jus kosten, und sie bekam eine halbe Apfelsine. Und sie sangen alle Strophen des Liedes über die Frau, die an einem Samstagabend auf ihren Liebsten wartete und danach nie mehr lieben wollte, weil er nicht aufgetaucht war, obwohl er es ganz fest versprochen hatte. Jetzt spielte es keine Rolle mehr, ob der 0resund voller Minen lag, was dasselbe war wie Bomben, denn sie würden doch nicht an den Strand angeschwemmt werden. Und ein Fest war jedenfalls besser als Zeitungen auf dem Boden und Nagelbürste an den Knien.
    Ruby glaubte aber, dass dem Vater die Putzperioden der Mutter lieber waren. Sie waren billiger. Und die Mutter verschwand
dann nicht über Nacht. Und an dem Tag, an dem alle glaubten, die Deutschen hätten den Vater geholt, konnte Ruby, wie alle anderen im Hellelidenvei, ihre Mutter schreien hören: »Ich weiß nicht, was ich TUN soll, wenn sie dich ERSCHOSSEN haben, Mogens!« Und sie fiel ihm um den Hals und weinte dramatisch. Anna sagte nachher, das sei dasselbe wie eine Liebeserklärung, und von ihren Eltern höre sie so etwas jedenfalls nie. Die liebten nur Gott.

    Es fing damit an, dass hinten im Garten ein Soldat mit Gewehr auftauchte. Es war Sonntag, die Sonne schien. Dass ein deutscher Soldat mit Gewehr in ihren Garten kam, war ohnehin nicht richtig. Aber da stand er dann, mit einem Helm, unter dem der Schweiß hervortriefte, und am Hals geöffnetem Uniformrock. Ruby lag im Gras und las. Der Vater beschnitt die Hecke. Die Mutter und Ib waren bei Dasse, die einen gewaltigen Bauch hatte und beim Gehen hin und her wackelte wie das Nilpferd im Zoo.
    »Heil Hitler«, sagte der Soldat rasch, mit einer Hand, die matt und gleichgültig durch die Luft bewegt wurde. Das sagten die Deutschen statt »Guten Tag«. Der Vater nickte zur Antwort und richtete sich auf.
    »Herr Thygesen?«
    »Ja.«
    »Kommen Sie mit.«
    »Warum?«
    »Nehmen Sie den Handwagen mit.«
    »Kann meine Tochter mitkommen?«
    »Ja, gewiss.«
    Ruby sah, wie die Hand ihres Vaters zitterte, als er die Wagenstange fasste.
    »Du kommst mit«, sagte er zu ihr.
    Sie gingen durch die ganze Straße, hinter dem Soldaten her.
    Alle wussten, dass er gekommen war. Sie standen am Gartenzaun
und schauten hinter ihnen her. Niemand sagte etwas. Der Vater starrte vor sich hin, auf den Rücken des Soldaten. Ruby hielt sich an seiner Hand fest und starrte in dieselbe Richtung. Sie waren unterwegs ins Fort.

    Sie wurden durch

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