Das Erbstueck
war sechs und Ruby elf. Jeden Tag nach dem Frieden wartete sie darauf, dass Anna nach Hause kam, Anna war jetzt doch auch elf. Es würde seltsam sein, sie wiederzusehen.
Tante Oda und Onkel Dreas kamen zum Friedensfest und Onkel Frode, ohne Anne-Gine, und Tutt und Käse-Erik ohne die Kinder, und mehrere Theaterleute aus dem Krieg, die der Vater als Schmarotzer bezeichnete. Ruby ging ihnen jetzt aus dem Weg. Nicht, weil sie fast immer hungrig und durstig und mit leeren Händen anrückten und nur ab und zu Rationierungsmarken beisteuerten, während Käse-Erik großzügig Essen und Getränke vom Schwarzen Markt hergab. Das alles ging den Vater an, nicht Ruby. Sie ging diesen Leuten aus dem Weg, weil die Mutter immer wieder davon sprach, ihre Karriere wieder aufzunehmen und zum Theater zurückzukehren, oder zum Film zu gehen. Und wenn damals Ruby nicht gekommen wäre ...
Die Theaterleute nickten und waren ganz ihrer Ansicht. Niemand widersprach der Mutter. Sie bestätigten ihr vielmehr, dass sie damals wirklich einer strahlenden Zukunft den Rücken gekehrt hatte, als sie zur Hausmutter geworden war. Eines Abends,
als die Mutter allein im Gartenzimmer saß und trank, und zwar noch vor Friedensbeginn, also Martini und Wasser, da riss sie ein flaches Buch aus dem Regal und warf es quer über den Boden Ruby zu. Es zischte dabei. Ruby fing es auf und schaute zur Mutter hoch.
»Ist das für mich?«
»Da kannst du lesen, was die Zeitungen damals über deine Mutter geschrieben haben. Ich war unterwegs zu den Sternen.«
Ruby las die Zeitungsausschnitte, betrachtete die Bilder einer gertenschlanken, lächelnden Malie-Thalia J. und schämte sich.
Zum Friedensfest brachte Käse-Erik Schinken mit. Es war ein riesiger rosa Schinken, der die Mutter ein Freudengeheul anstimmen ließ. Und es gab einen großen Kasten mit dünnen Zigarren, die sie Cerutti nannten. Vater spielte mit offener Gartentür modern auf dem Klavier. Ruby glaubte, dass er vielleicht zum letzten Mal modern spielte, denn alle Radios und Radiogrammofone der Stadt lagen in einem Schuppen, und der Vater hatte einen Zettel mit einer Nummer. Das Radiogrammofon gehörte ihnen also noch immer, und sie würden es zurückbekommen, jetzt, wo die Deutschen Hals über Kopf aus dem Lande gejagt worden waren. Der Vater hatte Zarahs Platten zerbrochen, Marlenes aber nicht. Zarah war Schwedin, hatte aber zu den Deutschen gehalten, Marlene war Deutsche und gegen sie gewesen. Zarah war vor langer Zeit mit anderem Abfall im Garten verbrannt worden, während die Mutter in der Küche geweint hatte und danach wieder putzte und keine Menschenseele sehen wollte.
Aber jetzt wollte sie das. Niemand hatte unter dem Krieg so gelitten wie sie. Ihre Finger waren ruiniert von der Näharbeit und den eiskalten Tagen mit feuchtem Koks, der nur Ruß produzierte, aber keine Wärme. Und ihre Künstlerinnenseele war gekränkt.
»So kann eine Künstlerinnenseele nicht leben, sie braucht Freiheit und joie de vivre!«, sagte sie und breitete ihre nackten
Arme aus und trug seegrüne Fransentücher um die Schultern. Im Glas schwappte eine blutrote Flüssigkeit, und der Garten hing voller chinesischer Lampions und dänischer Flaggen. Der Vater versprach, dass die beiden verbliebenen Kaninchen nicht im Kochtopf landen sollten und schenkte sie Ruby und Ib. Ruby drückte ihrs an sich und taufte es Fried. Fried war das schönste und weichste Wesen auf der Welt, und seine Augen sahen aus wie schwarze Glaskugeln, an denen sie gern geleckt hätte. Auf dem Friedensfest versuchte niemand, sie ins Bett zu schicken. Nachbarn schauten herein. Dasse trug einen neuen kleinen Jungen auf dem Arm, der schon den Namen Niels bekommen hatte, und Ib lief im Matrosenanzug herum und gab den Erwachsenen Feuer für ihre Cerutti.
»Nie mehr getrocknete Möhren rauchen!«, rief Onkel Frode und bekam einen Hustenanfall. Und alle zählten auf, was sie von nun an rauchen und trinken und welches Obst und welche süßen und fetten Sachen sie essen wollten, in wildem Überfluss. Und sie würden sich wieder Koks kaufen und kein feuchtes Zeitungspapier mehr zu Briketts pressen, die nicht wärmten, und die Damen würden sich Seidenstrümpfe leisten. Sie würden ins Kino gehen und Filme aus Hollywood sehen und es richtig genießen, dass sie jetzt auch über andere alliierte Themen als die englische Krankheit diskutieren durften. Und sie sprachen über die Verräter und die Deutschendirnen, die kahl geschoren wurden. Einer der dänischen
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