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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Das, was Anna gehört hatte, das mit den Käfigen, das war sicher nur, um sie zu fangen. Sie erschossen doch auch ihre eigenen Leute, wenn die nach Hause wollten. Und dann brachten sie sicher auch die Juden um. An einer Mauer, dass das Blut nur so spritzte. Oder sie schossen sie in den Bauch, bis die Därme sich losrissen und aus dem Mund quollen. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte.

    Mit Anna war alles Spannende aus dem Krieg verschwunden. Wenn die Deutschen zum Strand marschierten und sangen,
Schwarzbraun ist die Haselnuss, schwarzbraun bin auch ich — JA — BIN AUCH ICH!, dann waren sie gefährlich und hässlich und stanken schon von weitem nach Kohl und Pisse. Sie hatten die Köpfe rasiert, weil sie schmutzig und verlaust waren, und wenn einer von ihnen ihr je ein Bonbon reichte, würde sie diesen Mann anspucken und am Sonntagmorgen im Fort erschossen werden und im Sterben an Anna denken. Die Familie Fuchs hatte nichts verbrochen, sie hatten nicht einmal deutsches Stroh im Garten verbrannt. Das Einzige, was ihr einfiel, und was nicht so schön war, war das mit den Tieren, die verbluten mussten. Aber würden denn wirklich nur wegen einiger Tiere so viele Soldaten den weiten Weg aus Deutschland kommen? Wenn sie sich getraut hätte, hätte sie die Soldaten gern gefragt, aber sie glaubte nicht, so viel Deutsch zu können. Außerdem würden sie sie sicher nur anlügen und ihr etwas von Diebstahl und geheimen Zeitungen auftischen. Kuznetsov war Schuster, und Chwirkowsky, der Vater von Judith und Clara, Sargmacher. Warum sollten die Deutschen sich deswegen aufregen?

    Sie entdeckte Frau Jerk-Jensen im Garten. Sie pflückte Birnen. Das war schon eine seltsame Beschäftigung für den frühen Morgen. Sie müsste Mitleid mit der Frau haben, weil Herr Jerk-Jensen ums Leben gekommen war, aber das schaffte sie nicht.
    Ruby ging an den Zaun und rief: »Was haben die Juden verbrochen?«
    Frau Jerk-Jensen fuhr herum. »Bitte?«
    »Was haben die Juden verbrochen? Warum wollen die Deutschen sie holen?«
    Frau Jerk-Jensen leckte sich die Lippen, ihr Blick flackerte.
    »Lasst mich in Ruhe. Ich bin Kriegerwitwe.«
    »Was haben die Juden verbrochen? Jetzt sagen Sie schon!«
    »Die sind nicht rein! Sie gehören nicht der einzigen reinen Rasse an. Und jetzt weg mit dir von meinem Zaun! Drecksdeern!«

    Annas Mutter hielt ihr Haus immer sauber, und auch Annas Kleider, den Boden, die Vorhänge und die Kissen. Die weiße Sabbathdecke war immer strahlend sauber gewesen, ohne einen einzigen Fleck. Frau Jerk-Jensen war verrückt geworden, jetzt wo sie Witwe war. Eine andere Erklärung gab es nicht. Frau Jerk-Jensen war niemals bei Familie Fuchs zu Hause gewesen, soweit Ruby wusste.
    Als sie aus der Schule nach Hause kam, wurde sie plötzlich von der Mutter verprügelt. Ihre Lippe platzte, diesmal die Oberlippe. Frau Jerk-Jensen war bei ihr gewesen und hatte sich die Unverschämtheiten von Frau Thygesens frecher Tochter verbeten! Die Juden waren noch im Keller, und der Vater saß an Rubys Bett und erklärte, die Mutter sei deshalb so böse gewesen.
    »Sie hatte Angst«, sagte er.
    Ruby mochte nicht antworten, sie mochte auch nicht mehr weinen. Sie wollte nur, dass Anna zurückkam und dass kein Krieg mehr war. Sie wollte, dass die Juden in ihren Häusern lebten und jeden Freitagabend auf so schöne Weise Sabbat feierten und nicht mehr in fremden Kellern sitzen mussten. Sie wollte ihre Schule zurückhaben. Sie wollte ein neues Kleid, das aus einem Laden stammte, und nicht aus Vorhängen oder Tischdecken oder Mutters alten Sachen genäht war. Sie wollte am Strand baden, ohne aus den Wellen die deutschen Soldaten lachen hören zu müssen. Sie wollte eine ganze Apfelsine essen, nicht nur eine halbe, und sie wollte, dass die englischen Flugzeuge das Fort und den Flughafen bombardierten, bis alle tot waren, ohne dass das Feuer sich bis zu den guten Dänen ausbreitete. Wenn das nicht alles passierte, dann wollte sie wie Ännchen im Mond werden, wollte unbeweglich die Hand nach etwas ausstrecken, das sie besitzen wollte, wollte über Gärten und Häuser und Menschen leuchten und in alle Ewigkeit tot sein, weil sie sich zu viel gewünscht hatte.

A ls endlich der Frieden kam, ging die Mutter zu Rotwein über. Sie sagte, sie wolle für den Rest ihres Lebens nicht eine Martiniflasche mehr sehen. Die einzige Bombe, die in diesen fünf Jahren gefallen war, hatte die Zuckerfabrik von Langebor getroffen. Der Vater hatte jetzt weniger Haare. Ib

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