Das Erbstueck
du wirst ja älter.«
Dazu gab es nichts zu sagen. Tante Oda fügte hinzu: »Deine Mutter hat es nicht immer leicht gehabt, Ruby. Ehe sie deinen Vater kennen gelernt hat. Sie musste immer allein zurechtkommen, konnte nur auf sich bauen. Das hat sie vielleicht ein wenig... hart gemacht. Als kleines Mädchen hatte sie es auch schwer. Alfred ... ihr Vater, war nicht lieb.«
»Wo wohnen sie eigentlich? Die Eltern meiner Mutter?«
»In Hvideleje. Er war Gastwirt und Aalfischer. Jetzt ist die
Mutter total senil, und der Vater säuft nur oder geht Aale fangen, wenn er sich dazu aufraffen kann. Da wird er sicher enden — im Wasser bei den Aalen. Und sie wollen deine Mutter nicht sehen. Damals haben sie sie wie eine Sklavin ausgebeutet. Sie ist mit fünfzehn von zu Hause durchgebrannt, aber das weißt du sicher.«
»Nein.«
»Hat deine Mutter dir davon nichts erzählt?«
»Nein. Sie sagt nur, dass sie immer schon Künstlerin war. Schon als Kind.«
»Sie ist mit einer Theatertruppe umhergezogen und aufgetreten. Sie war mit einem von ihnen zusammen. Aber das ging nicht gut.«
»Das ging nicht gut? Hat er sie geschlagen?«
»Ich weiß nicht, Ruby. Ich kann doch nicht alles wissen. Aber deine Mutter hat mir einmal erzählt, dass es nicht gut gegangen ist. Mehr wollte sie nicht sagen. Wir haben doch alle unsere kleinen Geheimnisse.«
»Anna ist tot.«
»War das die kleine Dunkle, mit der du immer zusammen warst?«
»Ja. Sie war nicht rein genug. Sie war Jüdin. Die Deutschen haben sie umgebracht.«
»Ach, dieser verdammte Krieg... Fehlt sie dir, mein Schatz?«
»Es ist ungerecht, dass ich noch lebe, wo ich doch nur Goj bin. Ich werde in meinem ganzen Leben nicht an Gott glauben.«
»Nein, von dem ist noch nie etwas Gutes gekommen. Wir kommen gut ohne ihn zurecht, du und ich.«
»Sie wird bestimmt Fried aufessen, während ich hier bin.«
»Fried? Ist das das Kaninchen?«
»Ja.«
»Das ist zu alt und zäh. Und ich glaube, deine Mutter wird erst mal keinen Appetit auf Kaninchen mehr haben.«
Tante Oda ging mit ihr in den Zoo. Am besten gefielen ihr die Affen. Sie musterten sie mit einem Blick, als ob sie gerade etwas angestellt hätten und wüssten, dass sie das entdecken würde. Sie baumelten an ihren Schwänzen und grinsten mit lila Zahnfleisch und verfaulten Zähnen und riefen allen, die ihnen zuhören mochten, iii-iiii zu.
»Das sind ja vielleicht Frechdachse!«, sagte Tante Oda und lachte, und Ruby sah plötzlich, wie alt die Tante geworden war, und dachte, dass sie sicher bald sterben würde. Und Onkel Dreas würde dann auch mitten in der Woche Schnaps trinken, und sie selber könnte nirgendwo mehr hinfahren. Eine Theatertruppe wäre keine Lösung. Sie traute sich kaum, in der Schule aus der Geschichte Dänemarks vorzulesen, wenn alle zuhörten. Sie flüsterte den Text vor sich hin, bis Lehrer Backe einnickte und sie sich wieder setzen, im Gewimmel der anderen Kinder verschwinden konnte.
Sie blieben am Wolfsgraben stehen.
»Das arme Tier«, sagte Tante Oda. »Der hat im Krieg sicher nicht gerade Fettlebe gemacht.«
Der Wolf rannte mit gesenktem Kopf hin und her. Sein Fell war zerzaust, und am Schwanzansatz klaffte eine weinrote Wunde. So einer hatte Rotkäppchen gefressen, doch dann hatte der Jäger seinen Bauch aufgeschlitzt und mit Steinen gefüllt. Dieser Wolf hier jedoch lebte. Das taten schließlich die meisten. Trotz Wunden und Abmagerung und nichts, worauf sie sich freuen konnten.
»Der stirbt bald«, sagte sie.
»Dann wird sicher ein neuer angeschafft«, sagte Tante Oda.
Sie ging mit Ruby ins Tivoli, wenn sie vormittags frei hatte. Dann war der Eintritt billiger. Und sie gingen in Museen mit hundert Gemälden oder mit Dinosaurierskeletten, die an Stahlseilen von der Decke hingen, sodass man alles genau sehen konnte, von den riesigen Hüftknochen bis zu den winzigen Zehengelenken.
Sie waren immer nur zu zweit unterwegs. Sie gaben nicht viel Geld aus, aber sie aßen leckere kleine, in Schmalz gebackene und mit Schlagsahne gefüllte Kuchen und tranken Friedenskaffee. Ruby trank ihn mit Milch. Sie wäre gern munterer gewesen, weil Tante Oda lieb war und eine große Hand hatte, die sich so gut festhalten ließ, und wenn sie Ruby an sich zog, roch sie ganz leicht nach Lavendel. Außerdem nörgelte sie nicht wegen der Haarschleife. Und als der Sommer zu Ende war und Ruby nach Hause musste und als sie im Schein der tief stehenden Sonne im Garten auf der Bank saßen, eingehüllt in Rosenduft,
Weitere Kostenlose Bücher