Das Erbstueck
nicht.«
»Zeitungen? Warum sagst du das?«
»Wie Onkel Frode.«
Der Vater räusperte sich, holte tief Luft und flüsterte ihr ins Ohr: »Darüber reden wir nicht, und du darfst es auch nicht laut sagen, wenn deine Mutter es hören kann.«
»Weiß sie das denn nicht?«
»Doch, natürlich, aber sie macht sich Sorgen, wenn sie erfährt, dass du es weißt.«
»Warum denn?«
»Es ist besser, wenn Kinder so etwas nicht wissen. Sie hat dann Angst, dir könnte etwas passieren.«
»Aber meine Mutter kann mich doch nicht leiden. Die hat keine Angst.«
»Aber Ruby!«
»Ich habe ihre Figur und ihre Karriere ruiniert, aber wenn Anna in Schweden ist, und Miriam Kuznetsov und Judith und Clara, dann werde ich nicht mehr weinen. Wenn du mir das versprichst, Papa.«
»Das verspreche ich.«
Als sie nach unten kamen, war die Mutter mit Ib zu Dasse gegangen.
»Kannst du nicht das Schöne spielen, Papa? Nr. 7.«
Sie setzte sich neben dem Klavier auf den Boden, lehnte den Rücken daran. Dabei spürte sie die Musik auch mit der Haut, die schönste Musik der Welt. Anfangs mit sanften Tönen, die sich kaum in die Melodie hineinwagten, dann mit Kraft und Trillern. Sie hatte das Gefühl, sich hinzugeben, die Bilder kommen und in ihren Kopf strömen zu lassen, Bilder von Vögeln und Engelsschwingen und raschen Lächeln und fallenden Wassertropfen und weiten Röcken, die über einen Marmorboden wogten. Und
das Beste war, dass jeder Ton genau dort kam, wo sie ihn erwartete. Nicht ein einziger Ton ließ sie im Stich. Alle waren dabei, und alle waren hier zu Hause. Als er fertig war, blieb sie sitzen, und er hatte nichts dagegen. Mit geschlossenen Augen hörte sie alles noch einmal. Und er hatte es versprochen. Sie war in Schweden.
Eine Woche später kamen am späten Abend vier Menschen in den Keller, nachdem sie schon ins Bett gegangen waren. Fremde Menschen. Erwachsene. Vier erwachsene Juden, keine Kinder.
Rubys Schlafzimmerfenster schaute auf die Straße, sie hörte, dass der Wagen gerade hier hielt, aber es war doch überhaupt kein Fest. Auf dem Fußboden lagen Zeitungen. Und sie schliefen. Leise stand sie auf. Onkel Frode und seine Freundin, Anne-Gine, saßen still im Wohnzimmer, ohne zu essen oder zu trinken. Anne-Gine war alt, sie hatte zusammengewachsene Augenbrauen und platte Haare und einen schwarzen Mantel. Niemand entdeckte Ruby. Sie schaute zwischen Tür und Rahmen hindurch in die Küche.
Die Mutter war kreideweiß im Gesicht und klammerte sich an den Küchentisch, während der Vater leise und mit harter Stimme auf sie einredete. Die Figur, die sie verloren hatte und die daf ür sorgte, dass sie sich nicht im Bademantel sehen lassen wollte, beulte ihr Nachthemd aus. Die Brüste hingen herab. Sie waren durch den Stoff zu sehen.
»Nur für ein paar Tage, Malie. Wir können nicht Nein sagen, es ist zu spät. Sie wollen nach Schweden.«
»Weißt du, was du tust? Wir können erschossen werden. Erschossen, Mogens. Diese verdammten Bettelkommunisten hätten ja wohl andere fragen können als uns!«
»Versuch ein einziges Mal, nicht nur an dich zu denken. Die Sache ist entschieden. Sie sitzen im Keller. Es sind nur vier. Und kein Kind, das Krach macht.«
»Und wenn es Alarm gibt?«
»Ja, was dann? Wir haben schon zu fünfzehnt da unten gesessen, mit deinen Salonlöwen!«
»Na gut. Aber schaff deinen versoffenen Bruder und diese ... Hure weg. Und der Wagen muss vom Zaun verschwinden, ehe wir verraten werden. Und was ist, wenn Frau Jerk-Jensen sie gesehen hat, hast du dir das schon überlegt?«
»Frau Jerk-Jensen hat sich möglicherweise eines Besseren besonnen, seit ihr Mann an der Ostfront vermisst wird.«
»Davon wissen wir nichts. Einmal Nazi, immer Nazi. Und wenn Dreck zu Ehren gelangt ...«
»Schöne Ehre. Mit einem Hakenkreuz auf der Brust wie ein Hund zu krepieren.«
»Jetzt schaff sie endlich aus meinem Wohnzimmer. Und zwar sofort!«
Am nächsten Morgen schlich Ruby sich zur Kellerluke, ehe sie in die Schule ging. Die war von innen verriegelt. Unten war alles still. Es war eine Stille, die auf irgendeine Weise stärker war als die des leeren Kellers, so als ob dort unten jemand den Atem anhielt. Lange stand sie da und horchte, aber sie hörte noch immer nichts, nicht einmal ein Magenknurren. Sie hätte ein deutscher Soldat oder eine Denunziantin sein können, die dem Schalburg-Korps zujubelte, und ein Husten von dort unten hätte ausgereicht, um die Fremden in den Käfig zu stecken. Und zu erschie ßen.
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