Das Erbstueck
guter Name, Herzchen. Ein guter Name.«
A ber Anna kam nicht. Und auch nicht Judith, Clara oder Miriam. Die Klasse zog aus dem Kirchenkeller in die Schule am Sund um. Sie bekamen einen neuen Lehrer, Frau Olsen unterrichtete nur noch die Kleinen. Der neuer Lehrer hieß Backe, ein alter Mann mit Schwarzmarktbauch und kreisrunden Brillengläsern mit Fingerabdrücken. Er schlief während der Stunden, und alle mochten ihn.
Die Schule hatte ihnen gefehlt. Die Klassenzimmer waren von der Decke bis zum Boden mit grüner Seife und Salmiak gescheuert, Waschbecken und Kloschüsseln waren mit Salzsäure gereinigt worden. Aber das half nichts. Die Schule roch auch nach dem Großreinemachen noch nach Nazis. Sie roch nach verlorenen, frohen Tagen, wie in einem Traum, in dem die Deutschen jüdischen Kindern Bonbons geschenkt und in ihren Badehosen und Helmen komisch ausgesehen hatten.
Dann tauchten im Fort die Leichen auf. Alle wussten davon, und mehrere hatten sie gesehen. Tote Männer, die mit Kalk in Säcke gesteckt und dann auf Maschendraht in den Wallgraben hinuntergelassen worden waren. Als der Draht entfernt war, kamen sie an die Oberfläche. So sahen die Hinterlassenschaften der Deutschen aus. Hässlicher Schulgestank und Leichen in Kalk. Zu Hause fand der Klavierstimmer drei Kilo vergessenen Kaffee, als er den Deckel über den Saiten hochklappte. Das war ein schöner und witziger Fund. Und sie holten das Radiogrammofon.
So sollte der Friede sein, man fand alles, was man vermisst hatte.
Sie wagte nicht zu fragen, wo Anna denn blieb. Vielleicht wussten sie das auch nicht, weder die Schule noch der Vater. Sie ging oft zu Annas Haus, und eines Tages hielt ein Auto davor. Ein großes schwarzes. Hinter den Fenstern bewegten sich gebückte Gestalten, sie standen auf und griffen nach Taschen. Ruby rannte zur Hintertür.
»Anna! ANNA!«
Es war eine wildfremde Familie. Die Frau hatte echte Haare und trug keinen Hut. Der Vater hatte keinen Bart, sondern nur einen bleichen Flaum über den Lippen. Zwei kleine Jungen in weißen Hemden betrachteten Ruby interessiert.
»Hier gibt es keine Anna«, sagte der Mann.
»Aber das ist doch Annas Haus!«
»Wir haben es jedenfalls gekauft«, sagte die Frau.
»Haben Sie mit ihm gesprochen? Hat er Ja gesagt?«, fragte Ruby.
»Von wem redest du?«, fragte der Mann.
»Von Herrn Fuchs«, sagte Ruby.
»Wir haben keine Ahnung, wen du meinst. Wir haben das Haus möbliert gekauft.«
Als sie hörte, wie ihr Vater mit leiser Stimme zu Dasse sagte, dass die Familie Kuznetsov es auch nicht geschafft habe, wusste sie, dass Anna tot war, denn alle hatten Dänemark ja zusammen verlassen. Sie lief zum Strand hinunter, weil niemand sie weinen sehen sollte, und ging barfuß am Wasser entlang, dort, wo die Wellen gegen ihre Zehen schwappten. Im Krieg hatte sie gewusst, dass Anna in Schweden lebte, und sie konnte an sie denken und in Gedanken mit ihr sprechen. Wenn die Sonne scheint, denkt niemand an den Mond, hatte ihre Mutter immer gesagt. Und jetzt schien die Sonne, sie brannte auf ihre Arme; weit draußen
flimmerte das Wasser im Hitzedunst, und halb nackte Kinder spielten im Sand. Trotzdem konnte sie problemlos an die mondhelle Nacht denken, in der Anna geflohen war, weil sie nicht zu den Reinen gehörte, sie hatte Amager für immer verlassen müssen. Lag sie wohl in einem Sack voller Kalk? War sie auf einen Wagen geworfen und nach Einbruch der Dunkelheit zu einem Graben gefahren worden, so, wie das im Fort passiert war?
Die Sommerferien begannen, und sie durfte zu Tante Oda und Onkel Dreas.
Die Tabakpflanzen waren verschwunden. Blumen, die weder gegessen noch getrocknet werden sollten, um den Speisezettel anzureichern, leuchteten in allen Farben. Die Vögel trippelten wie früher über die Dachpappe. Die Zinkbütte im Schatten war mit Bierflaschen überfüllt, und sie durfte zusammen mit einer Nachbarin und Tante Oda mit Pferd und Wagen zum Kaufmann fahren. Die Pferde machten auf den Pflastersteinen ein Ger äusch, das wie klippeti-klapp klang, und drehten ihre Ohren in alle Richtungen. Wenn Ruby sich über etwas freute, über die Sache mit den Pferdeohren zum Beispiel, die so witzig aussahen, wenn sie sich bewegten, musste sie an Anna denken. Tante Oda kaufte ihr Pralinen. Die sahen aus wie kleine Baumstämme und waren an dem Ende, an dem man sie anfasste, mit Goldpapier überzogen. Gefüllt waren sie mit Eiercreme.
»Tausend Dank, Tante Oda.«
»Du bist so still geworden«, sagte sie. »Aber
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