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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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kümmerten sich sicher nicht darum, ob die zitterten. Denn sie zitterten bestimmt, unter der schweren Last, wenn die Muskeln nach Erlösung schrien. Mogens konnte den Erklärungen des anderen immerhin entnehmen, dass er wusste, dass es sich um Bauern handelte, die eins der Gebäude gekauft hatten. Vielleicht sollte es an seinem neuen Platz Schweine beherbergen.
Oder Heu. Oder irgendeinem anderen bäuerlichen Zweck dienen, himmelweit entfernt von der Zeit, in die es gehört hatte. Es war zum Weinen. Und dort lagen die offenen Grubengänge. Darin befand sich das Erz, vermutlich noch immer eine ganze Menge. Der schönste Blauton der Welt, und die erste bekannte Farbe, mit der Porzellan direkt bemalt werden konnte, ehe es mit der Oberglasur bei weit über tausend Grad gebrannt wurde. Hier hatte die Arbeiterklasse sich abgeschuftet, damit die Oberklasse ihre Mahlzeiten aus prachtvollen Schüsseln zu sich nehmen konnte.
    Was hatte er wohl erwartet? Er seufzte und starrte zu den Halden hinüber, zu den enormen Steinhaufen, den Hinterlassenschaften des Erzes. Er wusste, was die Arbeiterklasse war. Er war wie eine Lumpenpuppe zwischen den Klassen hin und her geschleudert worden. Zuerst Pastorensohn, für den die kirchliche Laufbahn bereits zurechtgelegt worden war. Danach Blaumalerlehrling. Und dann ausgebildeter Blaumaler, der die Vorstellung genoss, dass inzwischen auch die obere Arbeiterklasse an Feiertagen ihre Tische mit Porzellan mit Muschelmustern decken konnte. Noch in den schlichtesten Häusern sammelte man Kaffeetassen und kleine Schüsseln mit hohem Stiel und Sahnek ännchen. Es war eine Schönheitsrevolution, bei der die Zutaten der Oberklasse nach unten gesickert waren. Aber wenn sie jetzt schon anfingen, nach den Häusern zu greifen ...
    Wieder meldete der Mann sich zu Wort. Er sprach langsam, er wollte verstanden werden. »Ich habe hier als Bergmann gearbeitet. Dreiundvierzig Jahre lang ...«
    Mogens musterte ihn mit neuem Interesse und schämte sich plötzlich, weil er nur an sich gedacht hatte. Vermutlich war es viel schlimmer für den Fremden, der Demontage des kleinen Hauses zuzusehen, als für einen hergereisten Blaumaler, dessen Arbeitstisch in Kopenhagen unversehrt war, wenn auch verdreckt von der Zigarrenasche seines Nebenmannes Carl-Peter.
    »Fehlt es Ihnen?«, fragte er, ebenso langsam wie der andere.

    Aus dem Mann brach ein wilder Wortschwall hervor, der in Mogens’ Ohren auf steinigen Boden fiel. Er schnappte irgendetwas von Arsen und Tod auf. Der Mann spuckte ins Gras und schüttelte hasserfüllt den Kopf.
    »Mein Bruder«, sagte er.
    »Ist Ihr Bruder gestorben?«, fragte Mogens.
    »Ja. Nachdem er den Giftfang gesäubert hatte«, erwiderte der Mann langsamer und lauter, als habe er es mit einem schwerhörigen Kind zu tun. »Auch er war Bergmann. Er hatte ihn seit elf Jahren gesäubert, zweimal pro Jahr.«
    »Dann wusste er doch sicher, was er tat?«, fragte Mogens.
    »Handschuhe und Mundbinde. Aber dann hat er in einer Pause die Handschuhe ausgezogen und sich wohl zwischen zwei Zähnen herumgebohrt, ohne sich vorher die Hände zu waschen. Er ist in Krämpfen gestorben. Mit Schaum vor dem Mund.«
    »Waren Sie dabei?«
    »Ja.«
    »Und haben alles gesehen?«
    »Ich hatte ihm sein Essen gebracht. Ich war damals noch ein kleiner Junge.«
    Er räusperte sich energisch und spuckte dann wieder aus. »Mein Bruder war dreißig Jahre älter als ich und eine Art Vater für mich.«
    Der Haugfossen wütete mit einer Kraft, die fruchtlos in den Fluss mündete. Früher einmal hatte er Wasserräder angetrieben, und die wiederum hatten die Mühlsteine bewegt, die die blaue Glasmasse zu Pulver zermahlten. Mogens wusste nicht, was er sagen sollte. Seine Enttäuschung wuchs nur noch – warum war er hergekommen? Eine idiotische Idee. Er wusste doch, dass hier oben alles zu Ende war. Und jetzt sollte er auch noch ein Leben auf dem Gewissen haben.
    »Haben Sie selber blaubemaltes Porzellan zu Hause?«, fragte er, in dem für ihn selber lächerlichen Versuch, die Verantwortung
zu teilen, einen solchen Raubbau an Menschen um der Schönheit willen zu rechtfertigen.
    »Ich habe gebrannt. In den Gruben.«
    Das war ja auch eine Antwort.
    »Um die Wände zum Bersten zu bringen?«, fragte Mogens.
    Der Mann fing an zu erklären und redete wieder viel zu schnell. Mogens nickte höflich und ließ seinen Gedanken ihren Lauf. Er wusste trotzdem, wie sie gearbeitet hatten, sie hatten vor den Felswänden Feuer gemacht, bis die Wände

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