Das Erbstueck
Arbeit verrichtete. Herrgott, wie sehr musste er ihn enttäuscht haben!
»Sind Sie konfirmiert?«, fragte Mogens plötzlich.
»Ja. Das sind doch alle?«, erwiderte der alte Mann, der sich wieder Feuer gegeben hatte.
»Ich nicht. Obwohl mein Vater Pastor war.«
Am nächsten Tag nahm er seinen Skizzenblock mit. Es regnete, aber das spielte keine Rolle. Er wanderte vom Werk aus zum Wasserfall hoch. Er war derselbe wie am Vortag, nur womöglich noch kräftiger. Ihm ging es um die Umrisse. Der Regen verstärkte die grüne Farbe, während ein tief hängender Nebel sie zugleich dämpfte. Es war seltsam. Er hielt seinen Mantel über sich und das Papier und zeichnete eilige Skizzen. Kleine Zipfel der Wirklichkeit. Puzzleteile aus unterschiedlichen Winkeln und Details.
Der alte Mann war an diesem Tagnicht da, und das kleine Haus war ganz und gar verschwunden. Ein viereckiges Loch im Gras zeigte, wo es gestanden hatte. Eine breite Treppenstufe aus Schiefer lag noch dort. Eine Stufe, die in die leere Luft hinauff ührte.
Er bereute, am Vortag zu viel gesagt zu haben, und hoffte, den alten Mann nie wiedersehen zu müssen. Er war das Trinken nicht gewöhnt. Er hatte auch nicht gewusst, dass der Kummer so greifbar war, so dicht unter der Oberfläche. Sicher lag es daran, dass alles so ungewohnt war, weit weg von seinen vertrauten Routinen, weshalb sein Seelenleben ein wenig durcheinander geraten war. Daran, und am Gerede des Mannes über den Tod.
Er zeichnete mit blauem Füllfederhalter. Ein Maler hätte Bleistift oder Kohle benutzt. Aber für Mogens war es wichtig, blau zu denken, vom ersten Moment an. Blau war die Urfarbe, es war möglich, nur mit Blau farbenfrohe Blumensträuße zu malen – und Gesichtshaut, grüne Wiesen, Flüsse mit Booten, Mühlräder, Vögel. Die Farbe schuf das Bild durch den Kontrast zum Weißen. Zu Hause in der Fabrik hatte Arnold Krog ein für alle Mal bewiesen, dass Porzellan mehr war als nur stilisierte Muster – nämlich Landschaft, Portraits und Wirklichkeit. Und wenn er selber mit einer Zeichnung des Wasserfalls nach Hause kam, der die Energie zur Herstellung der norwegischen Blaufarbe gegeben hatte – dann musste doch das Interesse eines künstlerischen Leiters wie Adam Poulsen geweckt sein. Er würde eine ganze Menge Skizzen herstellen. Es sollte eine Serie werden. Eine historische Serie!
Er vertiefte sich dermaßen in seine Arbeit, dass er sich mehrere Male dabei ertappte, dass er den Füllfederhalter wie einen Pinsel hielt. Er sah die Porzellanfläche bereits vor sich. Die seidenweiche matte Oberfläche, die auf die Linien wartete, ehe die Ofenhitze Farbe, Glasur und Porzellan zu einer versiegelten und unbrechbaren Einheit verschmolz.
»Ach, sitzen Sie hier im Regen?«
Mogens fuhr zusammen, der Füllfederhalter rutschte weg.
»Ich zeichne.«
»Sie sind nicht der Erste, der hier oben zeichnet. Aber nicht im Regen. Ich dachte, ich hätte den wilden Wassermann persönlich vor mir, als ich Sie mit dem Mantel über dem Kopf gesehen habe. Warum sind Sie eigentlich nicht konfirmiert? Wo Ihr Vater doch sogar Pastor war?«
Er hatte an diesem Tag offenbar eine ganze Flasche getrunken. Mogens gab keine Antwort.
»Mich geht das ja nichts an«, fügte der Mann hinzu. »Ich heiße übrigens Sivert. Ich bin Witwer. Ich soll von Sofie grüßen und sagen, dass es heute Erbsen mit Speck gibt.«
Er hatte offenbar zwei Flaschen getrunken.
»Ei! Das hört sich ja hervorragend an!«
»Wie alt bist du? Sofie möchte das wissen.«
»Ach? Und warum möchte sie das wissen?«
»Ach, einfach so. Bist du verheiratet? Und soll das jetzt auf Porzellan gemalt werden, das da? Wenn du nach Kopenhagen kommst. Sofie liebt Porzellan. Hast du ihres gesehen?«
Das hatte Mogens, und es war schlichte Irdenware. Aber er sagte: »Ich bin nicht verheiratet, ich bin zweiunddreißig, und ich zeichne den Entwurf für einen Dessertteller.«
So. Damit war es entschieden. Eine Serie von zwölf Desserttellern, mit unterschiedlichen Motiven aus dem alten Modum Blaufarbenwerck. Oder... das waren vielleicht doch ein wenig zu viele.
»Sofie macht leckere Desserts. Hast du ihren Griespudding probiert? Mit roter Soße?«
Der Mann hatte offenbar restlos den Verstand verloren. Oder er war betrunken. Mogens klappte seinen Skizzenblock zu und ließ den Mantel über seine Schultern gleiten. Dieser Sivert stand mit triefnassen Haaren und jugendlich glühenden Wangen vor ihm. Er war also bei Sofie gewesen. Die Norweger mussten
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