Das Erbstueck
Taxi kam erst, als sie schon eine weite Strecke ohne Mantel gelaufen war. Den Strauß hatte sie verloren, ihre Tasche war noch vorhanden. Sie erreichte die Pension, schloss ihre Zimmert ür auf, schloss sie wieder ab und legte sich leise auf das Bett. Sie verspürte nicht den Drang zu weinen. Sie empfand nur eine tiefe Ruhe, die einem so riesigen Hass entsprang, dass er ihr fast unbekannt erschien. Es war ein Hass, dem jegliches Mitgefühl fehlte. Bei Kriegsbeginn war er dreizehn Jahre alt gewesen. Er musste tausend Gelegenheiten gehabt haben, zu sehen, was passierte. Bei Kriegsende war er achtzehn, und das war jetzt neun Jahre her. Sie wollte nicht einmal damit anfangen, Entschuldigungen für ihn zu finden. Wollte ihn nicht bedauern. Wollte nicht denken, dass er ein Sohn war, der versuchte, seine verrückte Mutter zu verstehen oder zu trösten, oder von einem toten Vater akzeptiert zu werden, der für ihn offenbar noch immer am Leben war.
Was bildete er sich eigentlich ein? Dass sie alles hinnehmen würde, wenn sie erst verheiratet wären? Dieser Trottel!
Er folgte ihr nicht nach Frogner. Er kam nicht. Sie schlief in ihrer Hochzeitsnacht allein, und sie hatte die Wäschekommode vor die ohnehin schon abgeschlossene Tür geschoben. Sollte er es doch versuchen, dieser Nazisohn! Aber am nächsten Morgen war er da. Es war ein Samstag. Sie hatte sich freigenommen. Sie
saß ganz still auf dem Bett, während er klopfte und durch das Schlüsselloch flüsterte, dass er sie liebte und dass sie miteinander reden müssten, bis er dann aufgab und ging. Ihr Mann. Was für ein Witz. Sie hasste ihn so sehr, dass sie fast nicht pissen konnte. Sie war ein harter Klumpen, der nichts losließ, nicht in sich hineinließ, sie aß nichts. Sie lag in kochend heißem Wasser in der Badewanne und zitterte vor Kälte. Sie erbrach bittere Magensäure. Sie trank Wasser, das war das Einzige, was sie hinunterbrachte. Am Montag ging sie zur Arbeit und rechnete damit, dass er dort auftauchen würde, aber das tat er nicht. Sie verband Majorstuen mit Manchester und Winnipeg mit Vinderen und bat um eine Unterredung mit dem Chef. Der Chef hieß Buchmann und war Jude. Er war der Einzige, den sie kannte, der sie möglicherweise verstehen würde. Er war alt und hatte keine Familie. Alle, bis auf drei Nichten, waren während des Krieges verschwunden, er hatte offenbar in Schweden überlebt. Sie ging geradewegs in sein Zimmer und sagte:
»Herr Buchmann, ich habe noch nie mit Ihnen über Privatangelegenheiten gesprochen.«
»Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann, Fräulein Thygesen...«
»Ich bin einfach verzweifelt, aber ich werde nicht weinen.«
Sie brach in Tränen aus. Herr Buchmann schoss hinter seinem Schreibtisch hervor und fasste ihre Schultern. »Aber meine liebe junge Dame, was ist denn... aber liebes Fräulein Thygesen...«
Und in den Armen eines fast wildfremden älteren Mannes, der ihr im Moment jedoch näher stand als irgendein anderer Mensch, da sie wusste, dass er freitags früher Feierabend machte, um mit weißen Kerzen und ungesäuertem Brot den Sabbat zu beginnen, erzählte sie alles. Dass sie schwanger war und am Vortag ein Nazischwein geheiratet hatte, das sie vermutlich glücklicherweise doch nicht liebte, und dass der Mann sicher zu bedauern sei, weil er log und seine Familiengeschichte nicht zugeben
wollte, aber dass sie auch nicht als frisch geschiedene Schwangere nach Kopenhagen zurückfahren wollte.
Herr Buchmann brach ebenfalls in Tränen aus. Er drückte sie an sich und weinte, leicht und locker wie eine Frau. Er weinte sicher nicht zum ersten Mal, und er versicherte ihr, dass sie eine Lösung finden würden. Zusammen.
»Ich werde einen Anwalt besorgen«, sagte er. »Einen guten.«
Sie erzählte ihm ganz spontan von der verschwundenen Anna, und er weinte noch mehr. Er schloss die Tür ab, setzte sich vor ihr auf einen Stuhl und hielt ihre Hände, und es war unmöglich, die Tränen aufzuhalten.
»Sie haben sie vergast«, flüsterte sie. »Ganze Familien, das weiß ich, splitternackt, sie standen auf dem Betonboden, Erwachsene und Kinder zusammen. Anna war meine beste Freundin, und sie waren alle so lieb. Und ich mochte auch die Deutschen leiden, zu Anfang. Sie sangen so schön. Dreistimmig, vierstimmig, und mit solcher Lebensfreude.«
Herr Buchmann nickte zu allem, was sie sagte, er wusste, dass sie wusste, dass sie ihm nichts Neues erzählte. Aber dass sie das alles zum ersten Mal laut aussprach.
»Ich habe
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