Das Erbstueck
Glaubwürdigkeit zu verleihen. Himmel, wie sie ihn hasste. Das Schwerste war nicht die Rolle, sondern die Versuchung, Palle Ollerup mit bloßen Händen umzubringen.
»Kleine Jebsen, Sie spielen gleich zweimal für ein Publikum. Sie spielen für das im Saal und für die Gäste im Blauen Engel. Lola-Lola ist eine miese Kabarettsängerin, sie spielt zwischendurch auch eine miese Lola, aber das bedeutet nicht, dass Sie für
die Gäste des Folketheaters auch eine miese Lola spielen sollen. Sie müssen beides schaffen, kleine Jebsen. Das ist eine Balance. Wenn Sie sich auf der Bühne ungeschickt verhalten, muss uns klar sein, dass das so gewollt ist, zugleich aber, dass Lola dem Professor und den Schulbuben gegenüber nun einmal nichts anderes kann. Verstehen Sie den Unterschied?«
Das Schlimmste war das Matrosenkleid, das sie in einigen Szenen tragen musste. Sie hasste dieses Kleid. Matrosenkleider waren etwas für Kinder. Aber sie hatte hier nichts zu sagen. Und sie widersprach nur ein einziges Mal, und dann mit einem kleinen Naserümpfen, das Ollerup sofort registrierte.
»Das symbolisiert den KONTRAST in der Unschuld, das müssen Sie doch begreifen! Eine üppige, sexverrückte Kabarettsängerin im Matrosenkleid, wie ein kleines Mädchen, das Männer verschlingt. Uns geht es hier um den Kontrast. Und Sie sollen keine Kleinmädchengedanken denken, vergessen Sie, dass Sie dieses Kleid tragen, die schweinischen Gedanken haben wir anderen, nicht SIE, kleine Jebsen.«
Das ist, was soll ich machen, meine Natuuuur ... Aber sie konnte immerhin durchsetzen, dass sie etwas mehr Bein zeigen durfte. Mehr von ihren Brüsten vorzuführen, konnte sie sich jedoch abschminken.
Alle anderen gehörten dem festen Ensemble an, sie kannten sich und schlossen sie aus. Auch Robert Andersen. Als mache er sie auch im wirklichen Leben für sein elendes Ende verantwortlich. Er steigerte sich dermaßen in seine Tragödie hinein, dass er sie konsequent Lola nannte, ob sie nun probten oder hinter der Bühne Wasser tranken. Und wer sie war, welche Bühnenerfahrungen sie mitbrachte, was sie konnte und was sie dachte – das war ihm schnurzegal. Er war mindestens vierzig Jahre älter als sie. Malie-Thalia vom Rode Kro war nur ein Requisit, eine Schlange in einem schwarzen Tutu, die das Leben eines hochmoralischen Pädagogen ruinierte.
Aber die Jungen stießen sie nicht fort. Die drei jungen, ehrgeizigen
angehenden Schauspieler, die die Schüler des Professors darstellten. Drei Schulbuben mit Tintenklecksen an den Fingern, die Lola-Lola verehrten und ihr Liebesbriefe schrieben und all ihr Geld für Blumen ausgaben, bis ihr alter Pauker angetanzt kam und ihnen die Schöne vor der Nase wegschnappte.
Sie hießen Svend, Ebbe und Kurt, und sie verehrten sie auch in Wirklichkeit. Sie folgten ihr wie keuchende Hundebabys und kamen mit in die Rampe, wo sie sich in ihrer Begeisterung sonnte, wo sie sich auf Wangen und Hände küssen ließ, wo sie ihr den Stuhl zurechtrücken, Feuer geben und mehr Wein holen durften. Sie lachte viel mit ihnen und dachte oft: Ich will lachen, ich will nur lachen, das ist meine Natur, ich werde ihn schon bald vergessen.
Am Tag der Premiere lag sie so lange wie möglich im Bett. Sie öffnete die Augen erst, als die Sonne schon tief stand und den Staub im Zimmer zeigte. Er müsste jetzt hier sein. Acht glückliche Tage hatten sie gehabt, und sie hatte angefangen, auf Deutsch zu träumen, auf Deutsch zu essen, auf Deutsch zu leben, auf Deutsch zu lieben. Wie in ihrer Jugend, mit Ruben. Sie hatte ihm versprochen, sich die Haare wachsen zu lassen. Sie hatte ihm versprochen, nicht zu viel zu trinken. Sie hatte ihm versprochen, mit nach Berlin zu kommen, und erst am Tag vor seiner Abreise gestanden, dass das unmöglich sei.
Aber als die Scheinwerfer auf der Bühne zum Leben erwachten, über hundert Stück gleichzeitig, dazu zehn, die über das Publikum fegten, und der Applaus sie hinter dem Vorhang erreichte, und Ollerup sie hart auf beide Wangen küsste und ihr Hals- und Beinbruch wünschte, da hatte sich alles gelohnt. Sie zitterte am ganzen Leib, ihre Nerven lagen wie zitternde Insekten unter der Haut. Sie kam sich vor wie am Rand eines tiefen Abgrundes, sie breitete die Arme aus und ließ sich fallen. Hinunter zu hunderten von jubelnden Gesichtern, von denen sie kein einziges erkennen konnte. Sie wurden zu Augen, die die
Bühnenlichter reflektierten, zu halb offenen, feucht glänzenden Mündern, zu funkelnden Schmuckstücken,
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