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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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Er spürte, wie er ihrem Blick begegnete. Ihrer war blank und leuchtete, als ob ihre Augen voller Tränen stünden. Und dann sprang sie vom Bühnenrand und schlang die Arme um einen Mann. Und jetzt weinte sie wirklich. Ihre Schultern bebten. Der Mann löste sich vorsichtig aus ihren
Armen, küsste sie auf den Mund und verließ mit raschen Schritten den Raum. Die Göttin ließ sich an einen Tisch sinken und schlug die Hände vors Gesicht. Eine andere Frau kam und zog sie mit sich.
    »Ist sie nicht wunderbar, die kleine Malie-Thalia«, sagte Frode laut. Mogens war wieder da. Er wusste, wo er war, und er hielt sich jetzt für nüchtern. Er wollte sagen, dass sie Ähnlichkeit mit Christina habe, der Sonne, die die Kindheit für sie beide gewärmt hatte, aber er wagte nur, das zu denken. Es bestand eine gewisse Möglichkeit, dass er noch immer betrunken war. Er hatte doch keine Ahnung, wie sich das anfühlte. Aber er musste sie wiedersehen. Er erhob sich.
    »Wohin ist sie gegangen?«
    »Keine Ahnung. Aber im Herbst wird sie im Folketheater den Blauen Engel spielen, das habe ich von einem Nachbartisch aufgeschnappt. Jetzt setz dich endlich.«
    »Aber was glaubst du, wer der Mann war? Der, dem sie um den Hals gefallen ist.«
    »Pah! Du weißt doch, wie diese Schauspielerinnen sind. An jedem Finger einen Liebhaber. Alles ist Drama. Wenn du sie das nächste Mal siehst, wird sie lächeln. Und du brauchst ein Bier und einen Schnaps.«
    »Nein. Ich will Kaffee.«

    Nachts träumte er von ihr. Er hatte seit dem Tod seiner Mutter niemanden mehr geliebt. Sie war seine Liebe, sein Leben. Er war mit dem Gedanken vertraut, dass es bedeutete, einen Menschen zu finden, mit dem man ein Leben aufbauen und zusammenbleiben wollte, wenn man eine Frau zum Heiraten fand. Er hatte nie erwartet, dass dabei Liebe im Spiel sein, dass er lieben würde. Das hier aber war zugleich etwas anderes. Von Christina hatte er sich Schutz gewünscht und bekommen. Die Göttin im Rode Kro dagegen – bei der war er der Beschützer. Es war eine seltsame, neue Vorstellung. Sie drängte allen Kummer in den Hintergrund.
Sie hüllte die Niederlage dieses Tages in eine gewisse Gleichgültigkeit. Malie-Thalia. Was für ein wunderbarer Name. Sich nach einer Muse zu nennen. So eine Frau musste Selbstsicherheit und Stärke besitzen. Und dann gehörte viel dazu, vor dem eigenen Publikum in entstellendes Weinen auszubrechen. Er hätte ihr gern die Tränen getrocknet, sie in seine Jacke gehüllt, sie an sich gedrückt, bis ihr Gesicht in seiner Halsgrube ruhte, und sie von allen weggetragen, die ihr etwas antun könnten. Sie sollte ihre milchweißen weichen Arme um seinen Hals schlingen und ihn nie wieder loslassen. Wie sie wohl duftete? Süß. Er tippte auf süßes Parfüm. Ganz anders als Anne-Gine, die immer nach frischem Gebäck und Palmolive roch.

    Die Reise nach Modum hatte ihn aus seiner Routine gerissen. Er verfügte über genügend Selbsterkenntnis, um zu begreifen, dass etwas für immer ruiniert war. Von nun an würde er mit seiner Arbeit unzufrieden sein, sie würde ihm nie mehr ausreichen. Durch die Erwartungen, die ihn durch die Arbeit hindurchgetragen hatten, und in denen Adam Poulsen am Ende eines roten Teppichs stand und ihm gratulierte und ihm alle Ehren erwies, hatte sich die Tür zu einem versteckten Teil seines Seelenlebens geöffnet, in dem glühender Eifer und Lebenskraft dominierten. Durch diesen Türspalt sah er Malie Jebsen zum ersten Mal. Wenn er nur wenige Tage später hingegangen wäre, wäre die Tür vielleicht wieder geschlossen gewesen. Er hätte gesehen, dass sie seiner Mutter ähnelte, aber das wäre alles gewesen. Sie hätte keinen Zutritt zu seinem inneren Raum gehabt, nicht so ohne weiteres.
    Das alles begriff er. Und es erfüllte ihn mit Dankbarkeit. Die Liebe zum Porzellan hatte ihn das Lieben gelehrt. Ja, so war das! Er konnte ja wohl ebenso dramatisch sein wie eine Schauspielerin. Er war doch ein Mann, zum Henker. Ein Mensch mit dem natürlichen Drang, bewundert und geliebt zu werden. Sogar der abstoßende Carl-Peter war verheiratet. Jeder Hutmacher fand irgendeine.
Er wand sich in seinem Bett, und er konnte erst einschlafen, als draußen wieder die Straßenbahnen vorüberschepperten.

    Auf seinem Arbeitstisch, auf der Drehscheibe, stand ein Kandelaber. Er zog seinen Kittel an, nahm ruhig Platz, mischte Farbe, stutzte den einen Pinsel besser zurecht und fing an zu malen, mit der linken Hand an der Drehscheibe.
    »Jetzt sind

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