Das Erbstueck
Nacken hinaufwanderte. Aber obwohl sie müde war, hätte sie ihn gern bei sich gehabt, hätte gesehen, wie sein strenger Blick der Liebe und vielleicht sogar der Lust wich. Hätte den Geruch seiner Hände wahrgenommen, hätte seine harten Unterarme umklammert, hätte sich am liebsten den ganzen langen und mageren Körper zu Eigen gemacht, der in dem Augenblick, in dem er nicht mehr stand, saß oder ging, zu einem ganz normalen Männerleib wurde. Und sie hätte ihm so gern gedankt, denn das war das erste Kind, das er nach ihr genannt hatte.
»Wer ist auf die Idee gekommen, mir Zuckerwasser und ein Ei zu geben, du oder das Mädchen?«
»Keine von uns.«
Christina schmiegte ihre Wange an das ruhige, runzlige Gesicht des Kindes. »Danke«, flüsterte sie. »Du hast mir schon große Freude gebracht, und dabei bist du noch keine Stunde alt.«
Der Himmel wölbte sich wie eine der trüben Fensterscheiben, in denen das Glas Luftblasen geworfen hat, wie Eis. Ein scharfer Wind von der Nordsee her fegte über Paullund, voller Schaum und Gischt, den er von den Wellenkämmen losgerissen hatte. Der Wind roch nach Regen, vielleicht sogar nach Schnee, und kündete von einem stärkeren Wind, der ihm auf dem Fuße folgte. Ausgehungerte Fischer zogen ihre Boote an Land und mühten sich mit Stagsegel und Treibnetz ab, um ins Haus zu kommen, ehe die Lampen angezündet wurden. Dicke harte Finger, die das kalte Eisen nicht spürten, das an ihren Knöcheln fraß, als sie die Netze an die Haken in der Wand hängten. Diese Finger und Hände waren so grob, dass sie niemals froren, und nur selten konnten scharfe Gegenstände ein Loch in sie hineinschneiden. Sie waren wie Schweinsleder.
Auf den wenigen bescheidenen Höfen, wo kleine Heidezipfel in karge Ackerflecken verwandelt worden waren, über die man einmal hinwegspucken konnte, verriegelte der Nährstand Ställe,
Scheunen und Speicher, und die Frauen holten die Kleidungsst ücke herein, die eben noch heftig im Wind getanzt hatten. Eilige Holzschuhe klapperten über graue Steinplatten. Hühner und Enten flatterten verwirrt umher, bis sie den Weg in den Stall fanden. Die Schweine hoben die Rüssel und schnupperten am Wind. Die Ziegen meckerten heiser. Magere Kühe drängten sich furchtsam aneinander, ließen die Schwänze schlaff nach unten hängen und warteten darauf, dass jemand sie holte, obwohl ihre Euter nicht schmerzten und es auch noch nicht Abend war. Alle wollten ins Haus. Die Hebamme machte sich Sorgen wegen ihres Heimwegs, der an den Dünen entlang führte. Sie konnte Sand in den Kleidern nicht vertragen, und wenn vor dem Regen der Wind kam, dann wurde sie gestochen wie mit Nadeln.
Aber auf jeden Fall würde sie für ihre Arbeit zuerst ein gutes Mahl erhalten.
Elise weinte nicht mehr. Auch der Küster Sophus war gekommen. Er saß mit feuchten Lippen und gefalteten Händen am Tisch und versuchte, mit demütigen Dankesgebeten für das neue Kind sein eigentliches Vorhaben zu überspielen: sich an dieser kleinen Mahlzeit zu beteiligen, um sich nicht selber verköstigen zu müssen. Elise lächelte, als sie den süßen Brei und die Schüssel mit dem knusprig gebratenen Speck vor die Hebamme hinstellte, und die Milch, die sie ihr einschenkte, war heiß und oben mit einer schönen fetten Sahnehaut bedeckt. Die Kinder, der Probst und der Küster bekamen wie immer lauwarme Milch mit Roggenbrotstücken, Elise wollte mit ihnen essen. Küster Sophus schaute verstohlen zum gebratenen Speck der Hebamme hinüber.
Probst Thygesen ließ seinen Blick über die vielen gefalteten Hände wandern, wie um sie zu zählen, senkte den Kopf und sagte: »Wir danken Dir, Herr, für unser täglich Brot, wir danken Dir für die unendliche Liebe, die Du heute uns und unserem geringen Hause gezeigt hast. Amen.«
»Amen«, wiederholte der Küster mit zitternder Stimme.
Hebamme Klüge nickte und machte sich über das Essen her. Sie wusste, dass in diesem Haus nicht munter geplaudert wurde. Sie war sonst daran gewöhnt, dass die Erleichterung nach einer Geburt viele Türen öffnete, dass sie gebeten wurde, dieses und jenes zu erzählen. Sie hätte mit der alten Sage angefangen, wie Loki seine Hammelherde über den Himmel trieb. Sie horchte auf den Wind und wusste, dass er dort draußen war. Aber solche Szenen durfte sie in einem Pfarrhaus nicht ausmalen. Obwohl die Kinder ihr dabei sicher an den Lippen gehangen hätten.
»Erzähl vom Meermann«, baten sonst alle Kinder. Sie war überall bekannt für ihre
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