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Das Erbstueck

Das Erbstueck

Titel: Das Erbstueck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne B Ragde
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werden. Sie hatte nie gesehen, dass die Mutter es auf einen Tisch gelegt hätte. Es war außerdem zu lang für die Tische, die es in ihrem Elternhaus gegeben hatte. Obwohl oder vielleicht auch weil es die kostbarste Decke der Welt war, hatte sie sie in zwölf gleich große Stücke geteilt und an den Schnittkanten jedes Mal einen Hohlsaum genäht, wenn sie guter Hoffnung war. Sie wollte jedes Kind in ein Stück der Damastdecke ihrer Mutter wickeln, eine Erinnerung an die Großmutter, die sie nicht mehr kennen lernen würden. Das hatte sie beschlossen, als sie die Decke geerbt hatte, und deshalb hatte sie sie Carl nie gezeigt. Sie hatte nur ganz einfach, wann immer ihr Leib anschwoll, ein Stück geholt und abends im Lampenlicht einen zierlichen Hohlsaum genäht, ohne dass das weiteres Aufsehen erregt hätte. Carl hätte sicher das Tuch besitzen, es als Kapital in der Truhe liegen lassen wollen, er hätte nie gewagt, es zu benutzen, da war er wie ihre Mutter.

    Die Hebamme wusch das Kind mit hartem Griff. Sie hatte selber keine Kinder und brachte dem blauroten Würmchen in ihrem Arm keinerlei zärtliche Gefühle entgegen. Sie wusste nur, dass er ein Pastorensohn war und deshalb rascher als die anderen in den Himmel kommen würde, wenn er innerhalb der ersten beiden Tage starb.
    Aber dieser Damast ... Sie hätte gern gewusst, ob Probst Thygesen überhaupt wusste, dass seine Kinder, eins nach dem anderen, in königliche Stoffe gewickelt, prahlerisch eingepackt wurden. Sie wollte nicht glauben, dass er das wusste, obwohl das hier nun schon das fünfte Kind war, das sie auf diesem Pfarrhof geholt hatte. Aber er wusste ja auch nichts von dem kleinen Strohbund, das sie für ein unersetzliches Requisit bei jeder Geburt
hielt. Geistliche waren nicht sonderlich begeistert von solchem Aberglauben, und außerdem hatten Männer ihre eigenen Vorstellungen davon, was Glück brachte.
    Jetzt hörte die Hebamme seine Schritte und wusste, dass der Älteste, Carlchen, ihn aus der Kirche geholt hatte. Der Pastor lag immer vor dem Altar auf den Knien, wenn Christina dabei war, ein neues Leben in die Welt zu bringen. Ob dieser Aufenthalt vor dem Kreuz ausschließlich religiösen Charakters war, oder ob er einfach zu feige war, um die Schreie zu hören, die von seiner eigenen, neun Monate zurückliegenden Wollust kündeten, wusste die Hebamme nicht. Aber jetzt stand er jedenfalls in der Küche. Christinas Schreie waren von denen des Säuglings abgelöst worden. Er saß in der Küche und wartete. Er musste das Kind auf sein Knie nehmen, um es als das Seinige anzuerkennen, und danach sprach er immer unendlich viel; die Hebamme hatte das ja schon häufiger gehört. Sie hielt das alles für unsinnig, bei einem so kleinen Kind, aber der Mann war schließlich ein Geistlicher, und Geistliche hatten eben viele Schrullen. Aber wenn sie als Hebamme hier war, dann hatte sie die Kontrolle und betrachtete ihn nicht mit derselben untertänigen Ehrfurcht wie in der Kirche oder wenn sie ihm auf der Landstraße begegnete. Nicht einmal das heiligste Buch konnte zwischen den bebenden Schenkeln einer Gebärenden etwas ausrichten.
    Mit einem Seufzer wickelte sie das Kind in das Damasttuch und schlug es danach in grobes, geziemendes Leinen ein. Dann trug sie das Bündel aus der Gebärkammer und hinein in die Welt.

    Die anderen Kinder saßen auf der Ausklappbank am Tisch, mit großen Augen und mäuschenstill, auch das allerkleinste, das an einer dunklen Brotkruste nuckelte. Das Mädchen, das ihnen im Haushalt half, saß neben ihnen und weinte in ihre Schürze.
    »Sei jetzt still, Elise«, sagte die Hebamme. »Das ist doch kein Grund zum Weinen.«

    »Es hat sich so schrecklich angehört, ich habe solche Angst«, schluchzte das Mädchen.
    »Sei still und wasch deinen Mund im Meer«, sagte die Hebamme mit scharfer Stimme.
    Sie reichte das Bündel Probst Thygesen, der den Stuhl vom Tisch weggedreht hatte, um auf seinem Knie Platz für das neue Kind zu machen.
    »Es ist ein Knabe«, sagte die Hebamme und dachte an die vier anderen Jungen, die in Reih und Glied am Tisch saßen. Carl Markus, Peter, Elias Frederic und Frode Nicolai.
    »Möge dieser ein guter Mensch werden«, erwiderte der Probst. Sein Bart zitterte an seiner Wange, und seine Finger bebten, als er das Bündel entgegennahm und einen raschen Blick zwischen die Stoffstücke warf, um danach den Kopf in den Nacken zu legen, die geschlossenen Augen zur Decke zu heben und auszurufen:
    »Das Leben ist eine

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