Das Erlkönig-Manöver
der Straße, dass es keinen Nutzen mehr hatte, auf seine Schritte zu achten. Gleichgültig stiefelten die drei durch das Gewitter und hielten sich mit einem zügigen Marsch warm. Das Wasser zog an ihren Röcken, an den Haaren und Bärten, füllte die Säbelscheiden und stürzte wie ein Katarakt von Schillers Dreispitz, bis der Filz schließlich nachgab und umknickte. Er schleuderte den Hut in den Graben. Wenn es sie dürstete, waren sie sich nicht zu fein, mit der Hand das Regenwasser aus den Pfützen zu schöpfen. Andere Wanderer hätten sie für Landstreicher der übelsten Sorte missdeuten können, doch bei diesem niederträchtigen Wetter waren keine anderen Wanderer unterwegs. Als sie über den Ettersberg waren und nach Weimar hinabliefen, umspülte das Wasser ihre Fesseln und führte den Weg voran zur Ilm.
Ohne dass sie sich darüber verständigten – denn sie hatten in der Tat seit Buttelstedt gar nicht mehr gesprochen –, lenkten sie ihre Schritte weder zur Esplanade noch zum Frauenplan, sondern geradewegs zum Schloss. Sie wollten sich Karls ohne Verzug entledigen. Im Brühl erkannte ein Bürger Goethe wieder, dessen Bart von allen der kürzeste war, aber der Gruß blieb ihm im Halse stecken, so verwildert schaute der Geheimrat aus.
Die Wache am Tor der Residenz verweigerte den drei Männern den Einlass. Goethe ließ in seinem Namen nach Geheimrat Voigt schicken, der wenig später so eilig die Treppe heruntergestiegen kam, dass er beinahe stürzte. Bei seinem letzten Besuch im Schloss hatte Goethe lädiert ausgesehen, aber das war nichts im Vergleich zum jetzigen Anblick. Voigt blieb auf der letzten Treppenstu fe stehen und schloss eine Hand über dem Mund.
»Herr im Himmel«, flüsterte er, »Goethe! Ich traue meinen alten Augen nicht. Wir hatten Sie schon für tot gehalten! Aber wie es den Anschein hat, waren Sie nicht weit davon entfernt. Und Herr von Schiller; verstecken Sie sich hinter diesem Räuberbart? Gott sei gepriesen, was für eine Freude! Sie sehen aus wie Eremiten, denen man nach Jahren den Stein vor der Höhle … – Und dieser junge Mann ist – du meine Güte, Sie haben es vollbracht? Treten Sie näher, ich bitte Sie, Euer Hoheit, Euer Gnaden gehorsamster Diener, Voigt mit Namen, Serenissimi Geheimer Rat. – Lakai!«, und hier klatschte er einen Diener herbei, »bring Er frische Kleider, die Herren sind nass wie die Fische, und Decken, und mach Er hurtig, und lass Er Serenissimo Gnaden Bescheid geben, dass Goethe und der König eingetroffen sind, vite, vite !«
»Und etwas zu speisen«, fügte Goethe hinzu.
»Hört Er’s? Einen Imbiss und Wein für unsre Helden, frisch auf! Was steht Er noch herum wie eine Ölgötze!«
Wenig später fanden sich die drei im Audienzsaal wieder, dort, wo vor nunmehr sechs Wochen das Abenteuer seinen Ausgang genommen hatte. Goethe hatte auf einem Diwan Platz genommen, Karl und Schiller auf Sesseln. Sie hatten sich ihrer Waffen und der nassen Mäntel entledigt und nahmen sich von den Speisen, die ihnen gebracht wurden, maßgeblich aber von einer heißen Brühe. Voigt konnte wenig später verkünden, dass nicht nur Carl August, sondern auch die werte Madame Botta, die zur Zeit in Weimar weile, samt Begleiter in Kürze zu ihnen stoßen würden, und ob man in der Zwischenzeit nicht doch nach einem Barbier –? Aber den anderen stand der Sinn nicht nach Körperpflege, noch nicht, und so berichtete Voigt, da die anderen nicht sprechen konnten, was sich in der Zwischenzeit im Herzogtum zugetragen, wie man von einem Unfall auf der Mainz-Kasteler Brücke gehört habe und ihn mit Goethes Bemühungen in Verbindung gebracht; wie Kunde von den scheußlichen Morden auf der Wartburg nach Weimar drang und der Herzog Mannschaften aussandte auf der Suche nach den Mördern und Goethes kleiner Gruppe; wie man vergebens den Thüringer Wald und den Hainich bis über die Grenzen Hessens, respektive Baierns, hinaus durchstöbert hatte; wie man zuletzt – als sie die Botschaft vom Tod des russischen Kutschers Boris aus dem hannoveranischen Kurfürstentum erreichte, den man erdolcht in seiner Berline am Straßenrand entdeckt hatte – die Suche hatte aufgeben müssen und welche Vorwürfe sich der Herzog gemacht hatte, weil sein Minister und Freund als verschollen, vielleicht sogar tot gelten musste. Als Schiller zwischen zwei Löffeln Bouillon nur das Wort Kyffhäuser sprach, schlug sich Voigt mit der flachen Hand an die Stirn, wiederholte das Wort und schalt sich den Rest des
Weitere Kostenlose Bücher