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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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verlassen hatten, und es vermochte keinen der vier aufzumuntern, dass sie die Kampagne beinahe erfüllt hatten und Weimar keinen halben Tagesmarsch mehr entfernt war.
    Hinter Buttelstedt gabelte sich die Straße, nach Weimar auf dieser, nach Oßmannstedt auf jener Seite, und ein Markstein wies ihr Ziel in anderthalb preußischen Meilen aus. »Denkt euch doch«, sagte Bettine, »Weimar schien mir immer so entfernt, als wenn es in einem anderen Weltteil läge – und nun ist’s vor der Tür.«
    Auf einen Blick von Goethe bat Schiller Karl, mit ihm einige Schritte vorauszugehen. Als die beiden außer Hörweite waren, sprach Goethe: »Bettine, ich möchte, dass du zu Onkel Wieland gehst. Sag ihm, ich schickte dich. In Oßmannstedt magst du zu Kräften kommen und dich ausruhen, solange du es begehrst, und sobald du heim nach Frankfurt möchtest, schick mir ein Billet, und ich werde meinerseits einen Kutscher anweisen, dich unverzüglich zurück zu deiner Großmama und deinem Bruder zu bringen.«
    Es brauchte eine Weile, bis Bettine alle seine Worte verstanden hatte. Mit ihren braunen Augen sah sie ihn an wie ein sterbendes Tier.
    »Es ist vernünftiger so«, versetzte Goethe.
    »Die Vernunft ist grausam, das Herz ist besser. Gehst du nach Weimar, so nimm mich mit.«
    »Ich kann dich nicht mitnehmen. Der Aufruhr wäre undenkbar und würde uns beiden argen Schaden zufügen. In den Wäldern waren wir allein, da waren nur die Fichten Zeuge, aber in Weimar ist es anders.«
    »Nein!«, rief sie aus, und schon liefen ihr die Tränen in Rinnsalen übers Antlitz und säuberten die Haut dort, wo sie flossen, vom Schmutz der Berge und der Straßen, »du kannst doch nicht sein, was du jetzt bist: hart und kalt wie Stein! Stößt mich zurück mit der Hand, die ich küssen wollte!« Mit beiden Händen griff sie nach ihm und zerrte an seinen Ärmeln, als wolle sie ihn zu sich herabziehen.
    »Du sagst, ich bin der Wilhelm Meister und du meine Mignon. Aber ich bin längst kein Wilhelm mehr. Hör doch, ich bin vielmehr der alte Harfner! Ich bin zu alt, um nur zu spielen.« Goethe stützte sie, damit sie nicht vollends vor ihm zusammensank. »Denk doch an Achim: Ist es nicht genug, dass er mich hasst? Soll er auch dich noch aus seinem Herzen verbannen? Nein, einer von uns dreien muss hinweg, und das will ich sein!«
    »Kann ich nicht beide haben? Warum muss ich mich entscheiden, muss ich dem einen vor dem anderen den Vorzug geben? Ich will es nicht, ich kann es nicht; eine Hälfte meines Herzens ist bei dir, die andre bei ihm, und trennt man euch, zerreißt’s mir das Herz. – Lass uns zurück auf den Kyffhäuser, Lieber, da hatte ich euch beide dicht bei mir und musste euch mit keinem teilen.«
    »Es waren gute Zeiten, Bettine, die nun vorbei sind. Wir werden uns wiedersehen. Aber glaub mir, und hör auf eines Mannes Wort: besser nicht in Weimar.«
    »Ich bin unersättlich nach so vielen tausend Küssen von dir –«
    »– und musst am Ende mit einem scheiden«, sagte Goethe. Aber just, als er seine Lippen zum Abschied auf die ihrigen zu pressen gedachte, machte sie sich von ihm los und nahm einige Schritte Abstand.
    »Nein«, sagte sie böse, und die Tränen waren nun versiegt, »fort von mir. Ich dulde nicht, dass du von mir Abschied nimmst. Ich bin es vielmehr, die sich von dir trennt. Ich bin nicht so demütig, wie du denken magst. Um von mir los zu wollen, musst du schon stärker zappeln. Und der Kuss, diesen Kuss bleibst du mir schuldig, bis ich ihn von dir einfordere!«
    Bevor Goethe etwas erwidern konnte, hatte sie kehrtgemacht und mit strammen Schritten den Weg nach Oßmannstedt eingeschlagen, ohne sich umzublicken. In ihren weiten Hosen und der gelben Savoyardenweste sah sie aus wie ein Bub, der vom Spielen heimläuft.
    Als Goethe wieder zu seinem Freund aufgeschlossen hatte – Karl lief voran –, sagte er: »Es war falsch von mir.«
    »Was?«
    »Alles. Insbesondere aber, Bettine auf diese Unternehmung mitzunehmen. Nun denn, das Alter muss doch einen Vorzug haben, dass, wenn es auch dem Irrtum nicht entgeht, es ihn doch irgendwann fassen kann. Welcher Teufel ritt mich? Was nur hat meine Sicht getrübt?«
    »Das Ewig-Weibliche?«
    Goethe lachte trüb auf. »Vielleicht. Herrje, ich fühle mich elegisch.«
    »Seien Sie beruhigt, sie ist nicht das erste verlassene Mädchen.«
    »Und nicht das erste, das sich getröstet hat. Sicherlich. Sie haben recht.«

    Bei Öhringen brachen die Wolken, und bald stand das Wasser so hoch auf

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