Das Erlkönig-Manöver
Nachmittages stumm einen Tölpel, dass sie im Thüringer Wald zwar keinen Stein auf dem anderen gelassen hatten, aber nicht einmal auf die Idee gekommen waren, weiter nördlich zu suchen.
In Begleitung der Französin und des Holländers trat nun Carl August hinzu, und allem Zeremoniell zum Trotz schloss er Goethe kraftvoll in die Arme und musste danach eine Träne mit dem Ärmel fortwischen. Madame Botta trug wie schon bei ihrer letzten Begegnung ein schwarzes Kleid und vor ihrem Angesicht den dunkelgrünen Schleier. Schiller bat die verschleierte Dame, auf seinen Handkuss zu verzichten, denn an seinen Händen hafte noch immer der Schmutz der Reise. Zuletzt war die Reihe an Karl, der während der Vorstellung schüchtern sitzen geblieben war.
»Der König ist in Ihren Händen«, verkündete Schiller.
Darauf erhob sich Karl. Baron de Versay verbeugte sich vor dem Jungen. »Louis«, sagte Madame Botta, und man konnte hören, dass sie dabei lächelte.
Sei es den Entbehrungen und Ängsten der vergangenen Tage anzulasten oder dem Gefühl, nach all diesen endlich außer Gefahr zu sein, oder schließlich dem Glase Wein, das Karl unvorsichtigerweise zu seiner Mahlzeit getrunken hatte – plötzlich wurde der junge Mann von einer Ohnmacht überwältigt. Er verdrehte die Augen, die Beine gaben unter ihm nach, und besinnungslos fiel er geradewegs zurück in den Sessel, von dem er eben aufgestanden war. Zwei Lakaien trugen Karl in ein nahes Schlafgemach und betteten ihn dort. Schiller untersuchte den Kranken und erklärte danach, die heilsamste Medizin gegen diesen Schwächeanfall sei ein langer Schlaf. Erleichtert begaben sich alle mit Ausnahme von Geheimrat Voigt, der auf den Thronfolger achtgeben sollte, zurück ins Audienzzimmer.
Auf Wunsch des holländischen Grafen musste Goethe nun sogleich einen Rapport der Begebnisse der letzten sechs Wochen erstatten. Der Dichter nahm seine Zuhörer also mit auf die Reise von Frankfurt über den Rhein bis tief in den Hunsrück, vom befestigten Mayence durch Hessen bis auf und schließlich sogar in den Kyffhäuserberg, wo die Unternehmung so tragisch endete. Goethe berichtete von der erbarmungslosen Verfolgung durch Capitaine Santing, der, wie es schien, nicht nur für den Tod Stanleys, sondern auch für jenen Boris’, des Kutschers, verantwortlich zeichnete, und dass es Santing vermutlich gelungen sei, Alexander von Humboldt, dem Standhaftesten ihrer Gruppe, ihren geheimen Aufent haltsort im Gebirge abzupressen. An den mannigfaltigen Ausrufen und Verrenkungen des Herzogs war zu erkennen, wie dieser bei der Erzählung seines Freundes mitfieberte. Baron de Versay und die Madame hingegen blieben ebenso regungslos wie Schiller. Goethe schloss mit der dringlichen Bitte, der Herzog möge Humboldt, sollte dieser noch immer Geisel sein, aus den Fängen Santings retten. Carl August versprach, Himmel und Hölle auf der Suche nach Humboldt und notfalls auch nach Kleist in Bewegung zu setzen, und bekräftigte sein Versprechen mit einem Händedruck auf den Schenkel des Freundes.
Endlich rührte sich auch Sophie Botta. »Sie haben das Vertrauen Ihres Herzogs gerechtfertigt, Monsieur Goethe. Wenn es auch ein schwacher Trost ist, versichere ich Ihnen, dass die Toten im Namen der Gerechtigkeit gestorben sind. Und dass der Blutzoll weit unter jenem liegt, der zu erwarten wäre, bliebe Bonaparte an der Macht. Ich danke Ihnen und natürlich auch Ihnen, Herr von Schiller, für die Rettung des Königs.«
Schiller, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, erwiderte mit einem Lächeln auf den Lippen: »Den Dank, Dame, begehre ich nicht.«
Sein unerwartet galliger Tonfall irritierte die Verschleierte. »Sie sind zu bescheiden.«
»Ich bin überhaupt nicht bescheiden. Aber Sie müssen mir nicht für die Rettung des Königs danken, weil ich den König nicht rettete. Weder ich noch irgendeiner hätte den König retten können. Louis Dix-sept ist seit zehn Jahren tot.«
Schillers Lächeln blieb unbeirrt. Goethes Hand aber verkrampfte sich um das Polster des Diwans, und Carl August blickte zu Boden. De Versay atmete tief ein.
»Pardon?«, fragte Madame Botta.
»Der junge Mann im Nebenzimmer, den wir behelfsweise Karl getauft, ist nicht Louis-Charles de Bourbon, sondern ein Mensch, der Louis-Charles de Bourbon gleicht wie ein Wassertropfen dem anderen und der mit beeindruckender, wenn auch nicht lückenloser Akribie darauf abgerichtet wurde, denselben zu mimen. Wie ak tiv die Rolle Karls in dieser
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