Das Erlkönig-Manöver
Humboldt »Nein« und Goethe »Bloß nicht«, und Humboldt setzte erklärend nach: »Meine Passierscheine.«
Die Gruppe der Franzosen erreichte sie jetzt. Einer der Gardisten hielt seine Waffe aus der Hüfte auf die Gefährten gerichtet, der andere wies die beiden Gefangenen an, sich hinzuknien. Die Uniformen der Soldaten waren in einem schlechten Zustand: Die gestreiften Hosen waren staubig, die Gurte locker und mitunter verknotet, und einige Knöpfe an Rock und Weste fehlten. Die Zweispit ze saßen schief auf ihren Köpfen, und um ihre Gesichter waren dichte Bartschatten. Sie hatten sich Schals umgewickelt, die so gar nicht zu ihren Uniformen passen wollten. Einer von ihnen hatte einen roten Ausschlag am Kinn.
Humboldt begrüßte den ältesten Soldaten des Trios in geschliffenem Französisch und überreichte ihm die Passierscheine. Während der Sergeant nun die Pässe prüfte, erzählte ihm Humboldt ein perfektes Lügenmärchen über eine naturkundliche Untersuchung, die er mit seiner Mannschaft – hier wies er auf seine Gefährten – an Basaltvorkommen links des Rheins durchzuführen suche. Dabei lobte er immer wieder die fortschrittliche französi sche Regierung, Freundin der Wissenschaft, die ihm die se Passierscheine ausgestellt hatte.
Als Humboldts Vortrag beendet war, senkte der ande re Gardist seine Muskete. »Wenn der Schwarzbrotfresser Frankreich so sehr liebt, warum trägt er dann im Schatten des Freiheitsbaumes noch den Hut?«
Der Sergeant schaute zu Humboldt. »Ganz recht. Erweisen Sie der Republik den Ehrengruß. Sie alle.«
»Selbstverständlich.« Humboldt nahm seinen Hut ab und raunte seinen Begleitern zu: »Sie wollen, dass wir den Hut ziehen vor der Jakobinerkappe.«
Erst als alle anderen den Kopf entblößt hatten, folgte auch Arnim ihrem Beispiel. Den Kopf in den Nacken gelegt, sahen sie hoch zur roten Filzmütze.
»Und jetzt sollen Sie die Marseillaise singen«, sagte der Musketier und lachte.
»Wie bitte?«
»Sie haben den Mann gehört«, pflichtete der Sergeant bei. »Benehmen Sie sich wie gute Gäste in unserm Land, und singen Sie die Hymne der Republik.«
»Das werde ich nicht tun«, zischte Arnim. »Außerdem ist es unser Land.«
»Still!«, zischte Goethe zurück.
»Was denn? Die Franzmänner verstehen uns doch eh nicht.«
»Darauf würde ich nicht wetten.«
Bettine beendete den Streit, indem sie mit schöner Stimme anhob, die Marseillaise zu singen, den Blick auf dem Freiheitsbaum. Die Männer stiegen eine Zeile später ein, wobei Arnim aber nur den Mund bewegte. Das wiederum bemerkte einer der Soldaten, worauf er Arnim mit dem Gewehrkolben anstupste, sodass auch dieser laut mitsang. Die offensichtliche Textunsicherheit einiger Sänger war ein großes Amüsement für die Franzosen.
Nach der ersten Strophe unterbrach sie der Sergeant lachend. »Das reicht, das reicht, genug des Ständchens; mit Ausnahme der Mademoiselle brummen Sie wie die Bären. Und es heißt Contre nous de la tyrannie, nicht Entre nous. Sie dürfen Ihre Hüte wieder aufsetzen, Bürger.«
»Können wir nun weiter?«, fragte Humboldt und streckte die Hand nach den Passierscheinen aus, aber der Sergeant faltete die Dokumente und tat sie in die Innentasche seiner Uniform.
»Nein. Sie begleiten uns zur Cantons-Gendarmerie nach Stromberg, es ist nicht weit; dort werden wir noch einmal nachprüfen, ob mit Ihrer Untersuchung der Basal te alles seine Richtigkeit hat.«
Humboldt wurde blass. Goethes Hände verkrampften sich um seinen Hut, den er noch hielt. Arnim führte eine Hand auf den Knauf seines Säbels.
Der zänkische Gardist ging feixend auf Bettine zu und nahm ihre Hand. »Und ich darf den Spaziergang mit dem hübschen schwarzhaarigen Fräulein machen. Die Kameraden werden mich und meine neue Freundin schön begaffen, wenn ich in Stromberg einmarschiere.«
Bettine wehrte die Hand nicht ab, aber Arnim war sofort zwischen ihnen, und mit unüberlegter Grobheit stieß er den Franzosen von ihr. Sofort waren zwei Musketen auf ihn gerichtet.
»Nicht doch, Bürger«, ermahnte der Sergeant, »wenn Sie nicht wollen, dass wir Sie gefesselt ins Dorf bringen.«
Als auf keine Rettung mehr zu hoffen war, trat plötzlich Schiller einen Schritt auf den Sergeanten zu, einen Brief in der Hand, und sagte: »Bei den Rechten, die mir als Citoyen français kraft dieser Urkunde von der Pariser Nationalversammlung verliehen wurden, fordere ich Sie auf, die Waffen zu senken und uns unverzüglich gehen zu
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