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Das Erlkönig-Manöver

Das Erlkönig-Manöver

Titel: Das Erlkönig-Manöver Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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ein brachliegendes Feld. Auf der Straße hielt Schiller plötzlich inne.
    »Ei, seht den Hut dort auf der Stange«, sagte er.
    Die anderen blieben ebenfalls stehen. Wenige Schritt weiter die Straße hinunter stand ein französischer Freiheitsbaum: der abgezogene Stamm einer Pappel, gut fünfzehn Ellen hoch, wie ein Maibaum in die Erde gerammt, darauf die rote Kappe der Jakobiner. Auf Augen höhe war eine Tafel angebracht mit der Inschrift: P ASSANTS CETTE T ERRE EST LIBRE .
    »Wanderer, dies Land ist frei«, sprach Bettine.
    »Weiter«, sagte Goethe, aber die anderen konnten sich von diesem Anblick nicht trennen. Unergründlich zog der Freiheitsbaum sie an.
    Der Stamm hatte einst bessere Tage gesehen. Nun stand er schief in der Erde, und Würmer und Käfer hatten sich an seinem Holz gütlich getan. Der Lack auf der Ta fel war brüchig, und in ihrem Schatten klebte ein Spinnennetz mit zahlreichen toten Fliegen und der toten Spinne dazu. Unterhalb der Spitze des Baumes war ein Band mit der Trikolore angebracht, das jetzt müde im Wind baumelte. Die Enden hingen in Fetzen, das Rot und das Blau waren ausgeblichen und das königliche Weiß fleckig gebräunt, sodass diese neu gefärbte Trikolore aussah wie die Flagge eines noch unentdeckten Staates. Ganz oben saß die Jakobinermütze mit einer Kokarde daran. Der ehemals rote Filz war von Wind und Wetter so zermürbt, dass die Mütze wie ein nasser Lappen auf der Spitze hing, und wie man von unten sehen konnte, waren zahlreiche Löcher darin.
    »Was kümmert uns der Hut? Eine Kappe ohne Kopf auf einem Baum ohne Wurzeln«, sagte Goethe. »Kommt, lasst uns gehen.«
    »Wisst ihr, woran mich dieser Hut erinnert?« fragte Bettine. »An die Schlafmütze des Michels.«
    Arnim schnaubte. »Wohl kaum. Der deutsche Michel köpft seinen König nicht, und er versklavt keine anderen Nationen.«
    Schiller löste einen Lacksplitter von der Tafel. »Die neue Zeit macht doch véritable Tigersprünge. Was scheint diese fränkische Revolution lange zurückzuliegen, dabei sind es erst – was? – fünfzehn Jahre. Fünfzehn kurze Jahre für den Wechsel von Königreich zu Demokratie, Ochlokratie, Tyrannei, Konsulat und Kaiserreich. Habe ich eine Station ausgelassen?«
    »Kinder, können wir uns bitte vom Stab mit dem Hute lösen und das Gespräch im sicheren Dickicht fortfüh ren?« schlug Goethe vor.
    »Wäre es nur bei der Demokratie geblieben«, sagte Humboldt.
    Schiller nickte. »Gott, was waren meine Hoffnungen in diesen Tagen bei Frankreich. Eh diese elenden Schindersknechte alles zunichte machten und ihre liebliche Aufklärung für blutgierigen Wahnsinn aufgaben. Es waren also doch keine freien Menschen gewesen, die der König unterdrückt, sondern bloß wilde Tiere, die er an heilsame Ketten gelegt hatte. Die Tränen möchten einem in den Augen wallen, wenn man bedenkt, was für eine einmalige Gelegenheit sie verschenkt haben.« Er schlug mit der Faust gegen den Stamm, dass in der Höhe die Kokarde und die phrygische Mütze bebten.
    »Her zu mir, wir müssen von der Straße hinunter«, in sistierte Goethe, aber noch immer wollte niemand auf ihn hören.
    »Wir Deutschen wären die Revolution anders angegangen«, sagte Arnim.
    »Wir Deutschen wären die Revolution überhaupt nicht angegangen«, berichtigte Humboldt.
    »Und vermutlich ist das auch besser so«, sagte Schiller.
    » Dixi, wir sind geliefert«, sagte Goethe, denn hinter einer Biegung des Tals erschien eine französische Patrouille.
    »Ah«, sagte Arnim, und Schiller: »Eh.«
    »Ih! Oh! Uh! Verwundert euch durchs ganze Alphabet! Der Auftrag in den Sand gesetzt, weil ihr unterm roten Käppchen über Zeitgeschichte schwatzen musstet. Meine letzten Worte werden sein: Hab ich’s euch doch gesagt. «
    Es waren drei Nationalgardisten, dazu offensichtlich zwei Gefangene, die an den Händen mit eisernen Handschellen und an den Füßen mit Ketten gebunden waren. Die Franzosen trugen Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten. »In des Kaisers Namen! Haltet an und steht!«, rief einer von ihnen auf Französisch, und im Laufschritt näherten sie sich.
    Die Gefährten sahen sich um. Um in den Wald zu gelangen, mussten sie eine Böschung hinab und über einen Bach. Und der Weg, den sie gekommen waren, führte über das freie Feld. Wohin auch immer sie hätten fliehen wollen, mussten sie mit Feuer rechnen.
    »Hätten wir die Münze nur vergraben«, sagte Arnim.
    »Kämpfen?«, fragte Schiller, eine Hand schon an der Armbrust.
    Gleichzeitig sagte

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