Das Erlkönig-Manöver
des Kleides und zielte auf den zweiten Mann, der unentschlossen war, ob er seine Muskete sinken lassen sollte oder aber auf Bettine anlegen, die nun ebenfalls »Hände hoch!« rief. Der Gardist auf dem Kutschbock griff sofort nach seiner Pistole, die in einem Futteral neben ihm lag, aber als er sie herauszog, schlug ein Armbrustbolzen im Holz der Kutsche ein, und das Burren der Sehne verklang im Buschwerk. Schiller hatte geschossen, ohne seine Deckung aufzugeben, und der Kutscher ließ nach diesem Warnschuss von der Pistole ab und hob die Hände hinter den Kopf. Die Kutschpfer de, die die Unruhe nun begriffen, begannen zu tänzeln, und die Räder der Kutsche knirschten im Sand. Hinten sprangen Humboldt und Arnim unter Rufen aus dem Gesträuch. Als der Soldat nahe Arnim sein Gewehr hob, drückte Arnim ab, aber das Pulver in seiner Pistole entzündete sich nicht, und der Schuss blieb aus. Arnim fluchte und spannte den Hahn abermals. Der Franzose legte auf Arnim an und feuerte, aber noch während das Zündkraut brannte, schoss der Riemen von Humboldts Peitsche durch die Luft, wickelte sich um den Lauf der Muskete und riss ihn im letzten Moment zur Seite, sodass die Kugel ins Leere knallte. Das Pferd bockte, und diesen Moment nutzte Humboldt, das Gewehr mittels seiner Peitsche ganz aus den Händen des Franzosen zu reißen. Es fiel zu Boden, von wo es Arnim sofort auflas, um zumindest das Bajonett als Waffe zu haben. Aus der Kutsche, hinter deren Fenster Vorhänge angebracht waren, tönte kurz der Aufschrei einer Frau, ansonsten blieb es still.
»Lassen Sie bitte Ihre Waffen sinken«, sagte Goethe, der nun aufgestanden war, laut und deutlich auf Französisch, »steigen Sie von Ihren Pferden, und legen Sie Ihre Hände hinter den Kopf. Im Wald sind mehrere unsrer Männer verborgen, die Sie allezeit im Visier haben, also verzichten Sie gütigst auf Fisimatenten. So Sie gehorchen, lassen wir Sie, parole d’honneur , bald wieder gehen. So nicht, töten wir Sie.«
Die Franzosen tauschten Blicke, aber keine Worte, und in stillem Einverständnis legten sie ihre Gewehre ab und die Säbel dazu. Humboldt führte seine beiden Gefangenen nach vorn. Die vier Reiter wurden mit vorgehaltenen Pistolen dort auf der Straße zusammengetrieben. Die Zügel der Pferde wurden an der Kutsche befestigt, der Kutscher blieb auf dem Bock. Arnim beschlagnahmte die Musketen, die Patronengurte und die Säbel sowie die Pistole des Kutschers und hatte bald einen stattlichen Haufen beisammen. Als die fünf Gardisten entwaffnet waren, kletterte auch Schiller von seinem Felsvorsprung hinab, gesellte sich zu seinen Gefährten und entspannte die Sehne der Armbrust. Bettine reichte dem höflichen Franzosen den Zweispitz zurück, denn der Regen hatte zugenommen.
»Vielen Dank«, sagte Goethe, an die Soldaten gewandt. Er übergab Bettine seine Pistole und ging auf die Kalesche mit den verhangenen Fenstern zu. »Madame de Rambaud? Haben Sie keine Furcht, Ihnen wird nichts geschehen. Steigen Sie bitte aus der Kutsche.« Drinnen raschelte es, aber nichts geschah. »Madame de Rambaud?«, fragte Goethe erneut. Dann öffnete er die Tür.
Mit einem jähen Ruck wurde die Tür ganz aufgestoßen, und ein sechster Soldat sprang, Pistole voran, aus der Kutsche. Er packte Goethe rücklings, den linken Arm um dessen Brust und die Hand fest auf dessen Schulter gelegt, und drückte die Mündung der Pistole an dessen Schläfe. Augenblicklich legten alle Gefährten ihre Waffen auf den Soldaten an – ein Gerassel von gespannten Abzügen ging durch die Luft –, aber keiner drückte ab: Goethes Leben war in der Hand des Franzosen, und sein Leib war für jenen ein perfektes Schutzschild.
»Die Waffen runter, oder ich erschieße ihn«, sagte der Mann. Er war älter als die anderen Nationalgardisten und trug die Uniform eines Lieutenants. Der Triumph funkel te in seinen Augen. »Die Waffen runter, sage ich!«
Goethe sah in die Gesichter seiner Kameraden: Arnim und Humboldt, deren Finger auf dem Auslöser zitterten. Bettine, die gleich zwei Pistolen in der Hand hielt und deren Haare in nassen Strähnen auf der Stirn klebten. Und Schiller, der so leichenblass war, als wäre die Kugel auf ihn selbst gerichtet.
»Sie erschießen mich nicht«, sagte Goethe zum Lieutenant.
»Ach nein? Und warum nicht?«
»Weil ich Schriftsteller bin und Ihr Kaiser, der meine Bücher hoch schätzt, Ihnen diesen Mord nie vergeben würde.«
»Welche Bücher?«
»Zum Beispiel Les Souffrances du
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